Post by Friedhelm SeifertPost by Ulf GerkanPost by Friedhelm Seifert"Artikel 1
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu
schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."
Könnte die Beschneidung unmündiger Kinder als entwürdigender Eingriff in
die Persönlichkeitsrechte eben dieser Kinder gesehen werden?
Ich meine: Durchaus, weil eine selbstbestimmte
Persönlichkeitsentwicklung des Kindes gefährdet sein kann.
Wenn man den Artikel 1 GG rein umgangssprachlich versteht, könnte man zu
| Mit der Menschenwürde ist der soziale Wert- und Achtungsanspruch
| gemeint, der dem Menschen wegen seines Menschseins zukommt
(Jarass/Pieroth Seite 44)
Der Wert- und Achtungsanspruch, der selbstverständlich jedem Menschen
zusteht, kann doch nur dadurch gewahrt werden, dass eben nicht ohne
ausdrückliche Zustimmung des Betroffenen herumgeschnipselt wird. Achtung
vor einem Menschen bedeutet doch, den Willen dieses Menschen zu
respektieren. Liegt eine Willenserklärung nicht vor, kann nur in einem
besonderen Notfall eingegriffen werden.
Man fragt das Kind auch nicht, ob es überhaupt gezeugt und geboren
werden möchte. Das wird im Gegenteil einfach verfügt, ganz ohne
besonderen Notfall.
Solange das Kind nicht selber entscheiden kann, müssen eben die Eltern
entscheiden, was für das Kind das Beste ist.
Post by Friedhelm SeifertPost by Ulf GerkanDie Beschneidung ist nun durchaus mit Hochachtung der Gemeinschaft für
den Initianden verbunden und wird mancherorts sogar als großes Fest
gefeiert.
Initiation setzt meiner Meinung nach voraus, dass der Initiant in die
Gemeinschaft aufgenommen werden will. mit der Beschneidung eines
Säuglinges oder Kindes im unmündigen Alter wird dieses Kind ungefragt in
eine zweifelhafte Richtung gezwungen.
Eine bewußt erlebte und gewollte Initiation hat sicher ihre Vorteile.
Man wird aber immer - mit oder ohne Initiation - in eine Gesellschaft,
in ein Milieu und in eine Familie hineingeboren, die man sich nicht
ausgesucht hat. Die Initiation ändert nichts daran. Mit oder ohne
Beschneidung wird das Kind von den Eltern und deren Umgebung geprägt und
"in eine Richtung gezwungen". Das Kind hat bis zu einem gewissen Alter
keine andere Wahl, als in der elterlichen Kultur groß zu werden.
Post by Friedhelm SeifertPost by Ulf GerkanInsofern fehlt der Beschneidung ein entwürdigender Aspekt. Sie
ist keine Strafe, keine Verächtlichmachung, nicht mit Verachtung
verbunden. Sie ist ganz im Gegenteil eine große Ehre und höchste Weihe.
Diese Form von Weihe lehne ich strikt ab. Diese Form von Weihe beruht
auf einem uralten Brauch, der in einer heutigen Gesellschaft, auch
Religionsgemeinschaft, nichts mehr verloren hat.
Als Beispiel nenne ich die christliche Kindestaufe, die ich übrigens
auch nicht wirklich befürworte. Hierbei wird ein rein symbolischer
Brauch vollzogen, der für das Kind keinerlei körperliche Folgen oder
Gefahren nach sich zieht.
Wenn man die Wahl hätte, wäre das vorzuziehen. Islam und Judentum lassen
aber leider keine Wahl.
Post by Friedhelm SeifertPost by Ulf Gerkan| Nach den grauenhaften Verbrechen des nationalsozialistichen Staates,
| der die Würde des Menschen unter Berufung auf staatliche oder
| sonstige Ziele auf das schwerste verletzten, hat der Verfassungsgeber
| den Schutz der Menschenwürde an den Anfang des GG gestellt. Er hat
| deutlich gemacht, daß in der Ordnung des GG zuerst der Mensch kommt
| und erst dann der Staat (...), in Umkehrung des
| nationalsozialistischen Leitsatzes, der Einzelne sei nichts, der
| Staat (oder die Gemeinschaft) alles.
(ebd.Seite 42)
Genauso kann man jetzt eine Umkehr des religiösen Leitsatzes verlangen,
der Einzelne sei nichts, die Gemeinschaft alles.
Gemeinschaften bestehen aus Individuen, und die Persönlichkeitsrechte
sieser Individuen sind zu respektieren.
Solange die Individuen ihre Rechte nicht selber wahrnehmen können,
handeln die Eltern stellvertretend. In diesem Grundsatz vermag ich
keinen religiösen Faschismus zu erkennen. Wo ein Kind zugegebenermaßen
(noch) nicht frei ist (gar nicht frei sein kann) in der Wahl seiner
Religion, sind es aber doch die Eltern. Die Eltern können frei über ihre
Religion entscheiden, und sie können auch entscheiden, mit welcher
Religion sie ihr Kind groß werden lassen möchten.
Post by Friedhelm SeifertPost by Ulf GerkanBei dem großen Wert der Individualität, die unsere Verfassung mit dem
Begriff der Menschenwürde verbindet, wäre es gerade ein gegen die
Menschenwürde gerichteter Akt, wenn man Verschiedenheit unterbinden
wollte. Wir müssen von daher - gerade der Menschwürde halber - fremden
Kulturen in unserem Land ein gewisses Maß an Abweichung zugestehen,
Abweichung von der gesellschaftlichen Mitte. Das spricht dafür, uns
fremd anmutende Bräuche wie die Beschneidung zuzulassen.
Verschiedenheit der Bräuche und Ansichten ist in Ordnung, solange hier
geltendes Recht nicht gebrochen wird.
Post by Ulf Gerkan| Die weitaus meisten Grundrechte zielen /primär/ auf ein *Unterlassen*
| des Staates, auf die Abwehr staatlicher Eingriffe
(ebd. Seite 19)
Der Staat (Gesetzgeber) kann und darf Eingriffe nur soweit unterlassen,
wie es das geltende Recht zulässt.
Wird geltendes Recht verletzt, also beispielsweise Körperverletzung als
reguläre und selbstverständlicher religiöser Ritus betrieben,
Inwieweit damit tatsächlich gegen geltendes Recht verstoßen wird, wissen
wir noch gar nicht endgültig.
Und selbst wenn nach geltendem Recht die Beschneidung unzulässig wäre,
hat es der Gesetzgeber in der Hand, das Recht den hinter allem Recht
stehenden ethischen Erfordernissen anzupassen und eine Beschneidung
wieder zuzulassen.
Post by Friedhelm Seiferthat der
Gesetzgeber die Verpflichtung, zum Schutz der Betroffenen einzugreifen.
Ganz besonders wann, wenn die Betroffenen unmündig und wehrlos sind.
Der Gesetzgeber hat dabei unter Anderem auch den mutmaßlichen Willen des
Unmündigen und Wehrlosen zu berücksichtigen. Dieser Wille äußert sich
doch ziemlich eindeutig darin, daß die Tradition beibehalten wird. Gegen
den Willen eines Betroffenen darf man nur im Fall großer Gefahr für den
Betroffenen handeln, wenn man ihm zum Beispiel den Strick für den
Selbstmord wegnimmt. Wenn Eltern ihre Kinder in schwere Gefahr bringen,
muß der Staat oder wer auch immer eingreifen. Klar. Aber bei
Kleinigkeiten, die erfahrungsgemäß zudem noch später vom erwachsen
gewordenen Kind abgesegnet werden?!
Post by Friedhelm SeifertPost by Ulf GerkanIn den Grundrechten geht es demnach primär um den Schutz des Einzelnen
vor /staatlichen/ Übergriffen. Wenn im Artikel 2 nun das Recht auf Leben
und körperliche Unversehrtheit formuliert ist, soll das den Einzelnen
ersteinmal vor staatlich organisiertem Verbrechen (Zwangssterilisation,
KZ-Haft, Gaskammer) schützen. "Nur" in zweiter Linie sind Leben und
körperliche Unversehrtheit auch vor Gefahren aus anderer Richtung zu
schützen.
Nein. das Recht auf körperliche Unversehrtheit gilt für Gefahren aus
jeglicher Richtung. Eben auch für organisierte Körperverletzung aus
religiöser Richtung.
Freilich, aber das ist nachrangiger Gesetzeszweck, und diese
Nachrangigkeit spielt im Prozeß der Abwägung mit anderen zu schützenden
Rechtsgütern ihre Rolle: nämlich daß diesen anderen Rechtsgütern
vergleichsweise entsprechend mehr Gewicht zukommt.
Die Beschneidung ist ein von /privater/ Seite erfolgender Eingriff in
die körperliche Unversehrtheit des Kindes. Das Verbot der Beschneidung
ist dagegen ein von /staatlicher/ Seite erfolgender Eingriff in die
Religionsfreiheit und in das elterliche Sorgerecht.
Staatliche Eingriffe in Grundrechte sind vom Grundsatz und auch vom
Grundgesetz her zunächst einmal als schwerwiegender zu werten als
private Eingriffe.
Daß man an das staatliche Handeln strengere Maßstäbe anlegt als an
privates Handeln ist verständlich, da vom staatlichen Handeln gleich ein
ganzes Volk betroffen sein kann, während durch privates Handeln i.d.R.
nur einzelne Personen beeinträchtigt werden.
Die vollkommen zu Recht ergehende Forderung nach Abwehr von aus
nichtstaatlicher Richtung erfolgenden Beeinträchtigungen des Rechts auf
körperliche Unversehrtheit wird im zweiten Zuge per StGB § 223
sichergestellt.
Wo das Grundgesetz in summa der Beschneidung eher positiv gegenüber
steht, tendiert das Strafgesetzbuch eher in die andere Richtung.
Inkriminiert ist dort im § 223 die "Körperliche Mißhandlung", die dem
Kommentar zufolge definiert ist als "eine üble, unangemessene
Behandlung, durch die das Opfer in seinem körperlichen Wohlbefinden,
wenn auch nicht unbedingt durch Zufügung von Schmerzen [...], so doch in
mehr als nur unerheblichem Grade beeinträchtigt wird" (Schönke/Schröder,
Strafgesetzbuch Kommentar, 27.Auflage, C.H.Beck, Seite 1903).
Man kann nun streiten, inwieweit Religionspraxis "angemessen" ist. Was
die Erheblichkeit der Verletzung betrifft, ist der Kommentar eindeutig:
Als Grenzfall wird eine Ohrfeige angesehen (ebd. Seite 1904), und es ist
keine Frage, daß eine Beschneidung eine größere Beeinträchtigung
darstellt als eine Ohrfeige.
Wo Straf- und Grundgesetz derart auseinanderklaffen, würde eine
höchstrichterliche Entscheidung zur Klärung beitragen. Oder der
Gesetzgeber muß tätig werden.
Post by Friedhelm SeifertPost by Ulf GerkanDie von Dir favorisierte "selbstbestimmte Persönlichkeitsentwicklung des
Kindes" hört sich zwar gut an, ist aber ein schwarzer Schimmel. Bei der
Schulpflicht werden die Kinder auch nicht gefragt, sondern man
entscheidet einfach über deren Köpfe hinweg, was gut für sie zu sein
hat. Wie sollten Kinder da auch eine qualifizierte Entscheidung treffen
können?! Man raubt ihnen einfach 10 Jahre Selbstbestimmung in der
Erwartung, daß sie damit glücklicher werden, als wenn man sie einfach
spielen ließe, und in der Hoffnung, daß die Kinder im Nachhinein ein
Einsehen in die Sinnhaftigkeit der ungeliebten Schule haben werden.
Schule ist etwas völlig anderes. Erst die schulische Ausbildung
ermöglicht ein vernünftiges Leben in einer modernen Gesellschaft wie der
unseren. Die Vorteile einer fundierten Ausbildung sind in unserer
Gesellschaft offensichtlich und vielfach belegt. Einen offensichtlichen
Gewinn, oder Erkenntnisgewinn, sind die Religionen bisher schuldig
geblieben.
Bei der Schule ist der Gewinn für das Kind objektiv gegeben.
Bei der Beschneidung wird der Gewinn sehr stark angenommen (und
subjektiv u.U. sogar als höher bewertet als der Gewinn aus Schulbildung).
Die Schule bringt also einen objektiv hohen Gewinn (Bildung) und einen
objektiv hohen Schaden (viele Jahre "Freiheitsentzug") für das Kind.
Die Beschneidung bringt einen subjektiv sehr hohen Gewinn (Bindung zu
Gott) und einen objektiv kleinen Schaden (ein paar Tage Schmerzen).
Wollte man objektive und subjektive Bedürfnisse gleich bewerten, müßte
man bei dieser Konstellation klar zugunsten der Beschneidung urteilen.
Anders sieht es erst dann aus, wenn man die subjektiven Bedürfnisse
(Religion) nur um einen "Subjektivitätsfaktor" gemidnert in die
Werteabwägung eingehen läßt.
Und wie groß dieser "Subjektivitätsfaktor" zu sein hat, darüber kann man
trefflich streiten.
Post by Friedhelm SeifertPost by Ulf GerkanWie soll ein Kind über Beschneidung ja oder nein entscheiden?!Ein Kind,
das mit Ausdrücken wie "Triebdämpfung" oder "sexueller Genuß",
"Assoziierung der sexuellen mit anderen Bereichen der Psyche" oder
"Fruchtbarmachung der sexuellen Energie für auch weniger eng mit der
Sexualität assoziierte Lebensbereiche" noch gar nichts anfangen kann?!
Ein Kind soll und muß darüber nicht entscheiden. Aus gutem Grunde sind
Kinder ja auch nur beschränkt oder garnicht geschäfts- oder straffähig.
Kinder können die Tragweite bestimmter Vorgänge nicht ausreichend sicher
beurteilen.
Daher sollen ausschließlich mündige Menschen über einen solchen Eingriff
entscheiden.
Diese "mündigen Menschen" sind die Eltern bis zur Religionsmündigkeit
des Kindes bzw. vor dessen Volljährigkeit.
Post by Friedhelm SeifertNiemand hat das Recht, einem Menschen die Erfahrungen zu verwehren, die
er nur mit naturbelassenem Geschlechtsorgan machen kann. Als Erwachsener
kann der Mensch immer noch entscheiden, ob er die Prozedur über sich
ergehen lassen soll.
Dann verwehrst Du immer noch die Erfahrung, wie es gewesen wäre, wenn
man von Anfang an beschnitten gewesen wäre. Den Einfluß der Beschneidung
auf die Entwicklung der Psyche kann man mE nicht einfach
vernachlässigen. Wenn man erst einmal 16 oder 20 ist, sind die Weichen
in der Psyche längst gestellt. Die Beschneidung kann die Psyche da bei
weitem nicht mehr in dem Maße formen wie zu einem früheren Zeitpunkt.
Post by Friedhelm SeifertPost by Ulf GerkanKann eine späte Beschneidung die Psyche überhaupt noch im selben Maße
prägen wie eine frühe Beschneidung? Gilt nicht vielmehr das Motte: Was
Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr?! Darf man wirklich den
Vorteil verschenken, den eine frühe Beschneidung gegenüber einer späten
hat?!
warum in aller Welt sollte Hänschen das Leben als beschnittener Mann am
eigenen Leibe kennen lernen.
Weil seine Eltern es für ungeheuer wichtig und sinnvoll für ihn hielten.
Post by Friedhelm SeifertAll das, was Ulf Gerkan für so erstrebenswert hält,
Ich bin weder Moslem noch Jude. Zufrieden mit der zu treffenden Regelung
sollen vor allem die Betroffenen sein, also Juden und Muslime.
Post by Friedhelm Seifertkann für Hänschen
völlig uninteressant sein. Hänschen kann, wenn er selbständig genug ist,
einen völlig unreligiösen Lebensweg einschlagen wollen.
Wenn aus Hänschen einmal Hans geworden ist, kann er sich immer noch für
die Beschneidung entscheiden,
ohne dann aber noch dasselbe Ergebnis damit erzielen zu können. Eine
Prägung der Psyche ist im fortgeschrittenen Alter viel schwieriger.
Post by Friedhelm Seifertwas für Hans erst dann einen wirklichen
Wert hat, weil er es dann selbst will.
Post by Ulf GerkanIch denke, ein Kind ist darauf angewiesen, daß die Eltern die richtigen
Entscheidungen für seinen Weg treffen.
Die Eltern müssen das Kindeswohl bei solchen Entscheidungen an die erste
Stelle setzen. Gruppenzwänge oder Traditionen sind für Entscheidungen
zum Kindeswohl nicht maßgeblich.
Gruppenzwang mag bei anders religiös oder weniger religiös denkenden
Eltern mit hinein spielen. Für überzeugt religiöse Eltern dient die
Beschneidung aber ganz entschieden dem Kindeswohl.
Post by Friedhelm SeifertPost by Ulf Gerkan"Kindliche Selbstbestimmung", das
funktioniert nur in einem sehr begrenzten Rahmen.
Kindererziehung ist keine Sache, die man mal eben so nebenbei macht. Ein
gewisses Maß an Selbstbestimmung sollte sein, solange die Grenzen nicht
überschritten werden.
Vor Allem aber muß das Kind an eine im Laufe seiner Entwicklung sich
steigernde Selbstbestimmung herangeführt werden. Das funktioniert nicht,
indem man das Kind schon als Säugling wichtiger Möglichkeiten der
Persönlichkeitsentwicklung beraubt.
Für die Entwicklung der Fähigkeit zur Selbstbestimmung ist nicht
entscheidend, das Kind schon im Säuglingsalter selbst entscheiden zu
lassen (wie denn?!), sondern mann muß ihm /dann/ einen erweiterten
Spielraum zugestehen, wenn es mit zunehmendem Alter die entsprechende
Reife entwickelt. Das geht mit und ohne Vorhaut gleichermaßen. Ohne
Vorhaut - wer hat's denn schon wissenschaftlich untersucht - vielleicht
sogar besser, wenn ich an die vielen Nobelpreise denke, die Juden
zuerkannt bekommen. So ganz schädlich kann die circumcision da nicht
gewesen sein.
Post by Friedhelm SeifertPost by Ulf GerkanAllein die Erwähnung des Sittengesetzes verdient Beachtung.
| Ohne praktische Bedeutung ist auch die dritte Schranke der
| Handlungsfreiheit, das Sittengesetz [...] Bei dem heutigen Grad der
| Durchnormiertheit aller Lebensbereiche [...] wird man [...] verlangen
| müssen, dass die Wertvorstellungen in einer Rechtsnorm ihren
| Niederschlag gefunden haben [...], mit der Folge, dass das
| Sittengesetz iSd Abs.1 in der verfassungsmäßigen Ordnung aufgeht
Geht das auch, ohne dass man den Text bis zur Unkenntlichkeit
zusammenkürzt?
Das war schon sinnerhaltend zitiert. Weggelassen wurden
Literaturverweise und Dopplungen.
Post by Friedhelm SeifertPost by Ulf GerkanDas muß mE mit der zunehmenden Etablierung des Islam in unserer
Gesellschaft hinterfragt werden. Sitten ändern sich, vor allem auch mit
der Zunahme kultureller Vielfalt.
Nicht "der Islam" etabliert sich hier, sondern Menschen islamischen
Glaubens.
Das sind nur andere Redeweisen. Wenn Muslime den Islam mit nach
Deutschland bringen, dann genießen sie ganz selbstverständlich den
Schutz der Religionsfreiheit. Und wenn das deutsche Rechtssystem das
nicht angemessen berücksichtigt, dann muß es eben angepaßt werden.
Post by Friedhelm SeifertDiese Menschen werden sich an den hier geltenden Normen ausrichten
müssen. Islamische Sitten müssen, wenn sie hierzulande beibehalten
werden sollen, mit den hier geltenden Rechtsnormen vereinbar sein.
Zunächst einmal ja. Aber hier lebende (und ggf. eingebürgerte) Menschen
haben auch das Recht, Ansprüche anzumelden und unser Rechtssystem (nicht
zuletzt auch per Wahlrecht) mitzugestalten. Wenn Ansprüche geltend
gemacht werden, müssen Gerichte darüber entscheiden und das Recht auch
auf diese Weise entsprechend weiterentwickeln.
Post by Friedhelm SeifertEine Etablierung des Islam als Glaubensrichtung darf keinesfalls mit
einer Übernahme durch ein Islamisches Rechtssystem verwechselt werden.
Ja.
Die Freiheit, etwas zu tun, ist etwas anderes als
die Pflicht, etwas zu tun.
Wir reden keineswegs davon, der großen nichtmuslimischen Mehrheit die
Rechtsvorstellungen einer Minderheit aufzuzwingen.
Es geht darum, einen maximalen Freiraum bei minimaler Beeinträchtigung
dritter zu gewähren. Dieser Freiraum kommt allen zugute. Man muß
natürlich genau hinsehen, was man tolerieren kann und was nicht. Für
Einschränkungen muß man schon gute Gründe anführen können. Jeder soll so
leben können, wie es ihm gefällt. Wenn Muslime den Islam toll finden,
sollen sie danach leben können. Wenn Musikfreunde Musik toll finden,
sollen sie Musik machen dürfen. Wenn ein Philatelist das Sammeln von
Briefmarken mag, soll er sie sammeln. Das beinhaltet ersteinmal
keinerlei Vorschriften für dritte (mal davon abgesehen, daß der Nachbar
über das ungelenke erste Pusten in die Blockflöte vielleicht nicht immer
erfreut ist und es trotzdem hinnehmen muß).
Post by Friedhelm SeifertPost by Ulf GerkanBezüglich des Strafrechts sind manche Gelehrte der Ansicht, daß die
"Sozialadäquanz" (die dem Sittengesetz entspricht) Strafgesetze sogar
aushebeln kann, daß also in gewissen Grenzen eine vom Gesetz her
eigentlich strafbare Tat nicht bestraft werden kann, wenn es als normal
angesehen wird, daß man so eine Tat "begeht".
In meiner Meinungsbildung orientiere ich mich nicht so sehr an
irgendwelchen "Gelehrten".
Es ist *enorm* gefährlich, das geltende Strafrecht surch irgendwelche
Sitten aushebeln zu lassen.
Blutrache, Ehrenmord, Misshandlung von Ehepartnern u.s.w. sind
"sittlich" begründete Vergehen bzw. Verbrechen.
ack
Man kann aber auch andere Beispiele nennen. Was ist zum Beispiel mit
Schlafmohn, den man "überall" in den Gärten seiner schönen Blüte wegen
wachsen sieht, dessen Anbau aber gleichwohl verboten ist?! Das wäre für
mich so ein Fall, wo man sagen könnte: Ok, zwei oder drei Mohnpflanzen
im Garten sind sozialadäquant, da muß man das Gesetz nicht unbedingt so
ganz 150%ig anwenden. Bei Ehrenmord usw. ist ein vergleichbares Absehen
von Strafe selbstverständlich und absolut fraglos in keiner Weise
verhältnismäßig.
Post by Friedhelm SeifertDa kann ich wirklich nur ganz entschieden sagen: Wehret den Anfängen!
Ja und nein. Gesetze sind für die Menschen da, nicht umgekehrt. Man
könnte problemlos hier und da ein paar Mohnpflanzen in Privatgärten
hinnehmen, ohne daß das Ziel des Mohnanbauverbotes gefährdet ist. Viele
wissen gar nicht, was das ist, was sich da von selber ausgesamt hat und
so schön blüht. Unzählige Kleingärtner jetzt nur des Prinzips halber zu
kriminalisieren steht - so finde ich - in keinem Verhältnis zum damit
erzielten Gewinn in Bezug auf die Drogenbekämpfung.
Unsere Gerichte haben im Großen und Ganzen ein gutes Gespür für
Verhältnismäßigkeit, und ich sehe deshalb keine Gefahr, daß das
Rechtfertigungsinstrument der Sozialadäquanz jenseits der vom Prinzip
der Verhältnismäßigkeit der Mittel gesetzten Grenze zur Rechtfertigung
schwerer Straftaten mißbraucht werden könnte.
Interessant und evtl. von Bedeutung ist die Sozialadäquanz vor allem bei
subjektiven Bedürfnissen.
Post by Friedhelm SeifertPost by Ulf GerkanPost by Friedhelm SeifertMädchenbeschneidung ist nicht erlaubt, Jungenbeschneidung Deiner Meinung
nach schon. Wo bleibt da die Gleichberechtigung?
Das Problem sehe ich auch. Wenn man die Beschneidung von Jungen zulassen
will, muß man u.U. auch bei Mädchen vergleichbar ungefährliche Eingriffe
dulden, etwa die Entfernung der Vorhaut der Klitoris.
Eben, und das kann wohl kein zivilisierter Mensch wollen.
Wir sind hier ja nicht im afrikanischen Busch, wo so eine Operation ohne
Betäubung und unter unhygienischen Bedingungen und alles andere als
fachgerecht durchgeführt wird.
Und was als zivilisiert gilt, ist relativ. Wer Beschneidung befürwortet,
wird diese Praxis als zivilisiert ansehen und den Verzicht auf
Beschneidung als unzivilisiert. Bei Naturvölkern, die die Beschneidung
pflegen, hat ein unbeschnittener Jüngling keine Chancen bei den Frauen.
Post by Friedhelm SeifertPost by Ulf GerkanPost by Friedhelm SeifertWie konstruiert man aus dem Recht, seine *persönliche*, *eigene*
Religion frei ausüben zu dürfen das Recht, anderen Menschen durch
körperliche Verletzung die eigene Religion aufzwingen zu dürfen?
Die Eltern üben - wenn sie ihr Kind zum Beschneider bringen - "nicht"
ihre Religion sondern die Religion ihres Kindes aus. (Anführungsstriche,
weil beide Religionen i.d.R. identisch sind)
Post by Friedhelm SeifertPost by Ulf Gerkan| Das Grundrecht der Kinder wird allerdings durch das Erziehungsrecht
| der Eltern nach Art.6 Abs.2 überlagert, die daher im Ergebnis die
| Glaubensfreiheit des Kindes bis zur sog. Religionsmündigkeit ausüben
(Jarass/Pieroth Seite 160)
Schon wieder Jurass/Pieroth...
Hast Du auch eine eigene Meinung?
Bei der Auslegung von Gesetzen ist der Spielraum eher gering.
Wenn man die hinter den Gesetzen stehende Ethik diskutiert, kommt etwas
mehr eigene Meinung ins Spiel.
Ich will mal eine These in den Raum stellen (ohne mich jetzt für oder
gegen sie auszusprechen):
Religion bedarf wie alle Kultur der Tradition. Mozart hätte nicht die
Zauberflöte komponieren können, wenn ihm nicht von klein auf Musik
eingeimpft worden wäre. Auch Religion lebt unter anderem davon, daß
nachfolgende Generationen von den vorangehenden die erprobten Denkmuster
übernehmen.
Für unsere Frage entscheidend ist nun, wie eng die "erprobten
Denkmuster" mit der Beschneidung assoziiert sind. Dabei ist nicht nur
die mittelbare Assoziation (Denkmuster und Beschneidung stehen beide in
der Bibel) zu berücksichtigen sondern auch die unmittelbare Wirkung der
Beschneidung auf die Psyche, eben die Art, wie der Gehirnkasten durch
den ständigen Reizfluß von der bloßgelegten Eichel konditioniert wird.
Ich halte es darum für möglich, daß ein Teil der religiösen Gedankenwelt
auf die Beschneidung zurückgeht, mit ihr in Koevolution entstanden ist,
daß der Mythos gewissermaßen auf die von der Beschneidung geprägte
Psyche zugeschnitten ist, so daß auch die Beschneidung die Psyche erst
soweit konditioniert, daß der Mythos den nötigen Widerhall in der Seele
finden kann, um (besser) als wahr angenommen werden zu können.
Wenn die Beschneidung tatsächlich ein derart integraler Bestandteil der
Religion ist, würde ihr Verbot den Mythen einen Teil der Evidenz und
Kraft nehmen und im Extremfall das Ende der Relgion einläuten.
Wenn Beschneidung und sonstige Religionspraxis tatsächlich so untrennbar
ineinandergreifen und ineinanderwirken, kann man sie nicht trennen. Man
kann sie nur entweder als harmonisches Ganzes bestehen lassen oder beide
Teile entsorgen. Letzterem steht die Relgionsfreiheit entgegen. Bleibt
nur erstere Möglichkeit: Beides zusammen bestehen zu lassen.
Soweit die These.
Post by Friedhelm SeifertDie Eltern dürfen eine religiöse Erziehung zwar ausüben, aber das
Kindeswohl steht noch immer im Vordergrund.
Glückliche Eltern machen glückliche Kinder. Wenn den Eltern verboten
wird, für ihr Kind das Beste (was sie für das Beste halten: Die
Beschneidung) zu tun, können sie ihrem Kind nur noch mit schlechtem
Gewissen gegenübertreten. Vorbei ist es dann mit der unbekümmerten
Zuwendung und freischwingenden Liebe. Der Selbstvorwurf, dem Kind nicht
das geben zu könenn, was es braucht, nagt am Vertrauen in die eigenen
Erziehungsfähigkeiten. Man kann sich dem Kind gegenüber nicht mehr so
geben wie man gerne möchte, man hält sich ihm gegenüber zurück, ist zum
Schauspielern gezwungen. Dieser Mangel an Authentizität schadet dem Kind.
Post by Friedhelm SeifertPost by Ulf GerkanPost by Friedhelm Seifert"Artikel 9 - Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit
(1) Jedermann hat Anspruch auf Gedankens-, Gewissens- und
Religionsfreiheit; dieses Recht umfaßt die Freiheit des einzelnen zum
Wechsel der Religion oder der Weltanschauung sowie die Freiheit, seine
Religion oder Weltanschauung einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen
öffentlich oder privat, durch Gottesdienst, Unterricht, durch die
Ausübung und Beachtung religiöser Gebräuche auszuüben.
(2) Die Religions- und Bekenntnisfreiheit darf nicht Gegenstand anderer
als vom Gesetz vorgesehener Beschränkungen sein, die in einer
demokratischen Gesellschaft notwendige Maßnahmen im Interesse der
öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und Moral
oder für den Schutz der Rechte und Freiheiten anderer sind."
Nach Absatz 2 dieses Artikels sind Gesetze, welche die Religionsfreiheit
zugunsten der Gesundheit oder der Rechte anderer Menschen einschränken,
durchaus zulässig.
Der Gesetzgeber hat da einen Ermessensspielraum. Ja. Allerdings wäre für
eine solche Einschränkung der Religionsfreiheit auch eine gesetzliche
Grundlage erforderlich, die in unserem Land derzeit in Bezug auf
Beschneidungen fehlt.
Eben. Und genau jetzt ist die Gelegenheit gegeben, hier eine rechtliche
Regelung zu treffen.
Beschneidung? Nein, Danke!
Ich bin für eine begrenzte Zulassung. Die Beschneidung muß auf jeden
Fall unter ordentlicher Betäubung "lege artis" erfolgen, und es muß eine
qualifizierte Nachsorge unter hygienischen Bedingungen gewährleistet sein.
Der Gesetzgeber könnte zudem festlegen, daß nur soviel weggeschnitten
wird, daß eine Wiederherstellung der Vorhaut leicht möglich bleibt.
Er könnte eine Beratunspflicht einführen, die zumindest über die
Nachsorge aufklärt, vielleicht aber auch einen Überblick über alle Vor-
und Nachteile der Beschneidung vermittelt.
Der Gesetzgeber könnte die Zulassung nur für eine begrenzte Zeit
beschließen, nach der anhand zwischenzeitlich durchzuführender
Langzeitstudien der Gesetzestext zu überprüfen wäre.
Wer weiß, vielleicht reicht das schon aus, daß die Bräuche sich ändern.
Wenn sie sich geändert haben, kann man sie viel problemloser verbieten.
Mit freundlichem Gruß, Ulf Gerkan