braesicke (***@despammed.com) schrieb
am 10.04.05 um 13:45 in /de/soc/politik/misc
Post by Lars BraesickePost by Martin BlumentrittPost by Lars BraesickeWas ist Unsinn? Daß die NPDler die größten Feinde Deutschlands sind?
Daß man mit Nationalismus Nationalismus bekämpfen kann, ist Unsinn.
Patriotismus ist nichts als ein Euphemismus für Nationalismus. Wenn
der Vorsitzende der NPD wegen Äußerungen, die hierzulande
breitgetreten wurden - z.B. von Jörg Friedrich - freigesprochen wird,
dann hat das ja auch den Grund, daß man sonst eine Reihe von anderen
Leuten gleich mit über die Klinge springen lassen müßte. Denn
inhaltlich unterscheiden sich die Arbeiten von Jörg Friedrich über
den Bombenkrieg nicht von den Verlautbarungen der NPD. Allenfalls der
Ton ist anders. Und diese ganzen Deutschnationalen Übeltäter wie
Friedrich, Grass und Co. zu blamieren, das hat man der NPD übel
genommen, nicht den Inhalt der Aussagen, der hierzulande
mehrheitsfähig ist.
Die USA ist wohl kaum ein Land, das in Verdacht steht auch nur in die
Nähe des Nazismus zu kommen. Im Gegenteil bekämpft sie doch den
Nazismus weltweit, im Irak, In Afghanistan, demnächst Syrien und
Iran.
Patriotismus, deiner obigen Einlassung "Patriotismus ist nichts als ein
Euphemismus für Nationalismus", ist in den USA sowas von verbreitet, mithin
also aufs Übelste nationalistisch.
Die USA ist nicht auf übelste nationalistisch, sondern Deutschland.
Das Übelste ist Deutschland, nicht die USA. Und daher ist vorrangig
Deutschland zu bekämpfen. Es gibt einen Unterschied zwischen
konstitutionellen Nationalismus und völkischen Nationalismus. Der
Hauptfeind ist letztere und dem gegenüber ist der konstitutionelle
als Gegner untergeordnet.
Post by Lars BraesickeDeine Kriegsgeilheit - "demnächst Syrien und Iran"- ist einfach nur
widerlich, Nationalist Blumentritt.
Um Frieden zu schaffen wird man diese Kriegsursachen beseitigen
müssen, ob mit Verhandlungen oder mit militärischen Mitteln, wird
sich herausstellen. So muß Syrien raus aus dem Libanon, die
Massenvernichtungswaffen von Saddam müssen beseitigt werden, die
vermutlich in Syrien zu finden sind. Der Iran darf keine Atomwaffen
bekommen.
Und zum Schluß eine begriffliche Differenzierung.
_Zur begrifflichen Differenzierung von völkischem und
konstitutionellen Nationalismus_
Ingeborg Maus arbeitet heraus, daß der konstitutionelle Nationalismus
des 18.Jahrhunderts von dem späteren "völkischen Nationalismus" sich
unterschied und die völkischen Nationalisten sich zu Unrecht auf
Begriffe berief, die eine andere Bedeutung hatten. Da sie gewissen
Sympathien mit dem aufklärerischen Begriffen hat, ist der Aufsatz gut
geeignet die Unterschiede herauszuarbeiten. Der Umschlag des
konstitutionellen in den völkischen Nationalismus wäre von der
Gegenposition eher zu beleuchten, die die Unterschiede verwischt.
Der konstitutionelle Nationalismus hat die revolutionäre gegen das
absolutistische Regime gerichte Stoßrichtung zur Voraussetzung.
Sobald diese historische Voraussetzung verschwindet, bekommt der
Nationalismus eine andere, destruktivere Bedeutung, die er nicht von
Anfang an hatte. Ein Zurück zu den alten Kategorien erscheint
allerdings als naiv und ist zurückzuweisen. Nur die vollständige
Überwindung jeglichen Nationalismus hat Zukunft. Der konstitutionelle
Nationalismus beruht auf Realabstraktion, an dessen Leiden, genau der
aggressive Nationalismus seine Motivation bekommt, auch Rassismus und
Antisemitismus speisen sich aus dieser Motivation. Daher ist der
Aufsatz unter diesem Vorbehalt zum Erkenntnisgewinn zu nutzen.
___________________________
_"VOLK" UND "NATION" IM DENKEN DER AUFKLÄRUNG_
Von Ingeborg Maus
Die Begriffe "Volk" und "Nation", die im 18. Jahrhundert fast
durchgängig synonym verwendet wurden und in ihrer Bedeutung auf das
grundlegende Legitimationsmodell der Volkssouveränität festgelegt
waren, unterlagen bis zum 20. Jahrhundert einem Bedeutungswandel, der
sie bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Das Thema ist deshalb nur dann
angemessen zu behandeln, wenn gleichzeitig die kollektive Verdrängung
des Volkssouveränitätsprinzips in der Gegenwart erörtert wird, die
den Begriffen Volk und Nation ihre ursprüngliche Intention entzog und
sie dadurch erst freisetzte für neue - höchst prekäre - Besetzungen.
Um die Besonderheit des Begriffs der Nation im 18. Jahrhundert
gegenüber aggressiven Nationalismen späterer Entwicklungen her
auszuarbeiten, lohnt es sich, auf eine Unterscheidung Jean-Francois
Lyotards einzugehen, die diese Besonderheit zugleich hervorhebt und
nivelliert. Dem letzteren Aspekt liegt ein Verfahren zugrunde, das
ganz einer heute modischen Betrachtungsweise entspricht, der
Aufklärung selbst schon anzulasten, was das 20. Jahrhundert an
Ungeheuerlichkeit hervorbrachte. Nicht eine "Dialektik der
Aufklärung" ist hier vorausgesetzt, sondern eine Verfallslogik der
Aufklärung. Lyotard unterscheidet in dem "Memorandum über die
Legitimität" (1) zwei Formen nationaler Identitätsbildung, die mit
der klassischen Entgegensetzung von substantieller "Kulturnation" und
voluntaristischer "Staatsnation" nur sehr ungenau übersetzt wären.
Während traditionale Gemeinschaften ihre Identität in mythologischen
Ursprungserzählungen manifestieren, die rückwärtsgewandt die konkrete
Besonderheit einer Gruppe als immer schon vorhandene und zu
bewahrende bestätigen, suchen republikanische Gemeinschaften in
Emanzipations- oder Zukunftserzählungen die Identität einer Nation
oder eines Volkes erst aus dem zu gewinnen, was das Volk normativ
sein soll. Nach dieser Unterscheidung ist also im ersteren Fall
nationale Identität schon vor aller politischen und rechtlichen
Willensbildung vorhanden, während sie im zweiten Fall durch
demokratische Prozesse der Rechtsetzung und politischen
Entscheidungsfindung erst hergestellt wird.
Diese im wesentlichen anschlußfähige Unterscheidung wird von Lyotard
jedoch sogleich wieder dadurch nivelliert, daß er der
republikanischen Identitätsbildung des 18. Jahrhunderts überhaupt ein
narratives Konzept zuordnet, aus dem die Mythologisierung von
Gründung und Ursprung tatsächlich folgt. Gegen Lyotard ist
einzuwenden, daß die Zukunft gar nicht erzählt werden kann, sondern
in der freien Willensbildung des Volkes erst hergestellt werden muß:
Argumentation ist darum die neue Diskursform, die die löst. Es liegt
in der Konsequenz von Lyotards Nivellierung, wenn er schließlich auch
dem Republikanismus unterstellt, daß er die Gemeinschaft immer schon
als real vorgegebene vorausetzen müsse oder eine Identitätskrise
notwendig impliziere, die im 20. Jahrhundert der arischen
Ursprungserzählung des Nationalsozialismus oder anderen Mythen
Vorschub leiste (2).
_Verfassungsmythologie_
Lyotards postmoderne Umdeutung republikanischer Identitätsbildung
findet in aktuellen Interpretationen und gesamtgesellschaftlichen
Selbstbeschreibungen zahlreiche Entsprechungen, wobei die
Remythologisierungen und Resubstantialisierungen harmloserer Natur
sind. So wird etwa die 200jährige amerikanische Unionsverfassung, die
am Beginn - ihrer basisdemokratischen Abneigungen unerachtet - nicht
selber Inhalte "erzählte" oder substantielle Identitäten entwarf,
sondern ein nüchternes Spielregelsystem für Entscheidungsprozesse
bereitstellte, die erst in Zukunft zu treffen waren, im 20.
Jahrhundert zunehmend zu einem mythologischen Gründungsakt
umstilisiert (3). Hatte noch der trockene Konservatismus Alexander
Hamiltons die zur Ratifizierung anstehende Unionsverfassung von allen
Wertbesetzungen auf radikale Weise freizuhalten versucht, indem er
den geplanten Verzicht auf einen Grundrechtskatalog mit einem
Verzicht auf politische Lyrik gleichsetzte (4), so wird in neuerer
Zeit die nationale Identitätsbildung in den Vereinigten Staaten in
dem Maße von Zukunftsorientierung auf Vergangenheitsorientierung
umgepolt, in dem die Verfassung zum Angelpunkt einer
Ursprungserzählung und Kern einer religion civile wird, die alle
Werte einer Gemeinschaft schon enthält. Der Angriff der
communitarians auf die liberals unterstreicht diesen Prozeß Auch das
sehr viel jüngere Grundgesetz wird längst nicht mehr als prozedurale
Prämisse für spätere inhaltliche Rechtsentscheidungen, sondern selbst
schon als der Inhalt betrachtet, der die Wertgemeinschaft dieser
Gesellschaft konstituiert. Bei den Entwicklungen ist gemeinsam, daß
sie das zukunftsoffene demokratische Prozedere, in dem Hamilton noch
die einzige Garantie staatsbürgerlicher Freiheit gesehen hatte (5),
zusammen mit ebenfalls prozedural verstandenen Grundrechtsgarantien
(6) zugunsten eines substantialisierten Verfassungspatriotismus
einschränken: Nicht mehr die Freiheit staatsbürgerlicher
Partizipationsmöglichkeiten in demokratischen
Willensbildungsprozessen begründet nationale Identität, sondern die
Unterstellung inhaltlicher Vorentscheidungen durch den Gründungsakt
der Verfassung, die nur den Zugang beschwörender Interpretation
zulassen. Dieser Übergang zur Verfassungstheologie begründet zugleich
die Wertexpertokratie frei judizierender Verfassungsgerichte, die
nicht so sehr als "Hüter" geschriebener Verfassungen denn als
Sachwalter politischer Einheit auftreten.
_Der radikale Republikanismus des 18. Jahrhunderts_
Ein Blick auf den radikalen Republikanismus des 18. Jahrhunderts, der
sich in einer spezifischen Konnotation von Volkssouveränität und
Nation manifestiert, scheint geeignet, den Nationbegriff der
Aufklärung gegen spätere Überlagerungen zu rekonstruieren. Ich gehe
im folgenden auf die einschlägigen Konstruktionen Rousseaus und
Kants ein, die zugleich mit den Verfassungsprinzipien der
Französischen Revolution genau übereinstimmen (7). Angesichts der
aktuellen Bewußtseinsverschiebungen verwundert es nicht, daß die
genannten Autoren und Prinzipien in vielfacher Hinsicht unter
Verdächtigungen stehen, die sich nicht nur aus der geläufigen
Verwechslung von Revolutionsprinzipien und Revolutionspraxis
herleiten (8). Allein das Prinzip der Volkssouveränität steht in sich
selbst so sehr unter Verdacht, daß dessen konsequenteste Vertreter,
Rousseau und Kant, heute entweder als totalitär oder als
obrigkeitsstaatlich eingeschätzt werden.
Es kann gezeigt werden, daß dieses Mißverständnis darauf beruht, daß
(nach unserem Sprachgebrauch) demokratische Theorien an
vordemokratischen Maßstäben gemessen werden: nämlich an dem Ausmaß
von Freiheitssicherung und demokratischer Kontrolle, das heute noch
möglich erscheint. Heute haben sich längst systemisch vernetzte
Entscheidungsprozesse gegen die gesellschaftliche Basis
verselbständigt, welcher nur noch die Möglichkeit nachträglicher
punktueller Reaktionen verbleibt. Lassen sich letztere unter dem
Titel "Widerstandsrecht" adäquat beschreiben, so intendierte dagegen
das aufklärerische Prinzip der Volkssouveränität die demokratische
Steuerung des gesamten Entscheidungsprozesses. Daß darum die
Abwesenheit eines Widerstandsrechts bei beiden Autoren gegenwärtig
als Defizit erscheint, besagt wenig über die Demokratietheorie des
18. Jahrhunderts, aber alles über die Regressionen des gegenwärtigen
Demokratieverständnisses. Entscheidend für das vorliegende Thema ist,
daß das vormoderne Widerstandsrecht von den Aufklärern deswegen als
eine zu beschränkte Kompetenz des Volkes abgelehnt wird, weil es sich
auf die Verteidigung von partikularen Freiheitsverbriefungen und
materialen Rechten bezog, auf die sich die Gesellschaft nicht erst zu
verständigen hatte, sondern die in der mittelalterlichen
Wertegemeinschaft als objektiv vorgegeben galten. Das
Widerstandsrecht verteidigt also noch Inhalte, die man "erzählen"
kann.
_Das "Volk" der Volkssouveränität_
Das Prinzip der Volkssouveränität etabliert sich dagegen gerade in
der Umstellung von materialem Naturrecht auf prozedurales Naturrecht:
Positives Recht ist nicht deshalb legitim, weil es inhaltlichen
Gerechtigkeitsprinzipien entspricht, sondern weil es in Verfahren
gesetzt wurde, die ihrer Struktur nach gerecht, d.h. demokratisch
sind. Daß im Gesetzgebungsprozeß alle über alle das gleiche
beschließen, ist eine normativ anspruchsvolle Voraussetzung, die
nicht mehr inhaltlich definiert ist, sondern durch Selbstgesetzgebung
der Rechtsadressaten, gleiche Verfahrenspositionen und Allgemeinheit
der Rechtsregelung Willkür verhindern und eine Minimierung von
Herrschaft bewirken sollte. Dem entsprach die Umstellung von
konventioneller auf postkonventionelle Moral, die die inhaltlichen
Tugendkataloge des Mittelalters entkräftete und die moralisch
handelnden Subjekte gegen traditionelle Gerechtigkeitsexpertokratien
insofern autonom setzte, als jedem einzelnen ein formales
Prüfverfahren der Generalisierungsfähigkeit seiner Maximen
("Kategorischer Imperativ") anheimgestellt wurde.
Alle diese Umpolungen von materialen Vorverständiungen zu Verfahren
der je neuen Verständigung entsprechen dem aufgeklärten Begriff
nationaler Identität, der sich nicht auf die Inhalte einer
Vergangenheit, sondern auf die in Zukunft stets neu herzustellenden
Inhalte möglicher Identifikationen bezieht. Die ständige
demokratische Beteiligung aller an diesen
Entscheidungsfindungsprozessen enthält so die Kompensation für die
Unberechenbarkeiten zukunftsorientierter, sich rasch verändernder
Gesellschaften. Volkssouveränität meint in diesem Kontext die
voluntaristische Freisetzung der demokratischen Gesetzgebung aus
jedem gemeinschaftlichen Ethos, aber deren Bindung an ein Verfahren,
das auch bei Abwesenheit tugendhafter Motivationen der Bürger
strukturell garantiert, daß der inhaltlich unbeschränkte Wille
vernünftig sein kann. Das "Volk" der Volkssouveränität kann
angesichts dieser Abstraktion von allen substantiellen Inhalten nicht
positiv, sondern nur noch negativ definiert werden: zum "Volk"
gehören alle, die nicht in den Staatsapparaten sitzen. Gerade dieser
negative Volksbegriff kennt keinerlei ethnische, kulturelle oder
soziologische Kriterien, die Zugehörigkeiten oder Ausschlüsse
begründen könnten. In der Konnotation der "Volkssouveränität" besagt
er nichts anderes, als daß nur den Nicht-Funktionären, keinesfalls
aber den Amtswaltern die Souveränität der Gesetzgebung zukomme.
_Rousseau_
Ein erster Blick auf die Begriffe Volk oder Nation bei Rousseau und
Kant läßt es allerdings fraglich erscheinen, ob sie sich auf der Höhe
dieser Prinzipien befinden, oder nicht doch - insbesondere bei
Rousseau - mit kommunitaristischen oder sogar
aggressiv-chauvinistischen Intentionen sich verbinden. Auf letzteres
könnte eine Stelle (neben vielen anderen) aus Rousseaus erstem
Discours verweisen: "Während die Annehmlichkeiten des Lebens
zunehmen... wird die echte Tapferkeit entnervt, die militärischen
Tugenden verschwinden. Das ist auch das Werk der Wissenschaften und
all jener Künste, die man in der Stube hockend ausübt. Als die Goten
Griechenland verwüsteten, wurden alle Bibliotheken nur deshalb vom
Feuer verschont, weil einer die Meinung ausstreute, man müsse den
Feinden die Möbel lassen, die so gut geeignet waren, sie vom
Militärdienst abzuwenden und sich mit einer sitzenden und müßigen
Beschäftigung zu vergnügen." (9) In solchen Möbeln sitzend ist zu
fragen, ob Rousseaus Beschwörung "des süßen Namens Vaterland" (10)
eher eine Verbindung von Volkssouveränität und Nation unter
militaristischen Vorzeichen enthält. Ließe sich vielleicht die
umlaufende Behauptung halten, daß schon die radikale
Demokratietheorie des 18. Jahrhunderts mit einem Politikbegriff
operierte, der die Identität eines demokratischen Gemeinwesens aus
der existentiellen Freund-Feind-Unterscheidung gewann (womit man von
Rousseau sehr schnell zu Carl Schmitt käme)?
Gegen diese finstere Interpretation des Zusammenhangs von
Volkssouveränität und Nation sind mehr Argumente möglich als der
Verweis auf die bekannte Tatsache, daß im 18. Jahrhundert die
Forderung militärischer Ertüchtigung aller Bürger im Sinne eines
Milizprinzips erhoben wurde, das gegen die stehenden Heere des
Absolutismus gerichtet war. Die militärische Tugend Rousseaus war
unter diesem Aspekt gegen ein Instrument gerichtet, das auch zur
innerstaatlichen Repression eingesetzt werden konnte, und stand
deshalb auch unter immanent-demokratischen Vorzeichen. An der
zitierten Stelle geht es Rousseau jedoch um die Verteidigung eines
politischen Gemeinwesens nach außen - wie überhaupt Rousseau stets
betont, daß alle militärischen Anstrengungen nur zu
Verteidigungszwecken eingesetzt werden dürfen. Der Zusammenhang
zwischen interner Volkssouveränität und nationaler Souveränität nach
außen besteht hier darin, daß demokratische Willensbildung eines
Volkes in aller Regel von Okkupationsmächten nicht anerkannt wird.
Dieser Zusammenhang ist gleichermaßen in Kants Argumentationen
präsent, die die Reihenfolge der Demokratisierung monarchischer
Systeme nach den jeweiligen Verteidigungsbedürfnissen bestimmen (11).
Diese Sicht der Dinge bestimmt ebenso Rousseaus und Kants Votum für
eine weltweite Konföderation souveräner Einzelstaaten, das der
globalen Universalisierung des Volkssouveränitätsprinzips entspricht.
Da aber Volkssouveränität nie gegen den Willen eines Volkes
eingeführt werden kann, muß sie trotz ihrer universellen Intention in
jedem einzelnen Volk errungen, eingeführt und eingeübt werden. Das
führt aber noch einmal auf die Frage nach dem Volk der
Volkssouveränität.
Der erste Blick auf Rousseau ist auch hier besonders verwirrend. Der
_Entwurf einer Verfassung für Korsika_ und der _Contrat Social_
scheinen in dieser Frage diametral entgegengesetzt. Die
Korsika-Schrift unterstellt eine so große Homogenität der
Gesellschaft, einen so zentralen Stellenwert von stabilen Sitten und
Gebräuchen als sozialer Kitt der Gesellschaft, daß in das Volk
Korsikas nur alle 50 Jahre ein Fremder feierlich integriert werden
kann (12). Es ist allerdings zu beachten, daß Rousseau für Korsika den
Sonderfall einer demokratischen Regierungsform formuliert, die er im
Contrat Social wegen der hohen Tugendanforderungen an die Bürger und
wegen des Fehlens einer Gewaltenteilung ausdrücklich als
unrealisierbar und nicht wünschenswert verwirft (13). "Demokratie"
meint im Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts die antike Demokratie im
Gegensatz zur favorisierten "Republik". In der Korsika-Schrift
handelt Rousseau tatsächlich von der oft kolportierten Identität der
Regierten und der Regierenden (14), während die Republik nur die
Identität von Gesetzgebern und Rechtsadressaten verlangt und erlaubt.
Volkssouveränität ist im letzteren Fall identisch mit der
Gesetzgebungskompetenz des Volkes. Diese ist als Souveränität
ungeteilt, sie findet aber ihre Grenze an der Kompetenz der
Exekutive, die allgemeine Gesetze auf den Einzelfall anzuwenden hat
(15).
Die spezifischen Homogenitätsbedingungen des Volkes in der
Korsika-Schrift gelten also nur für den auf die kontingente
historische Entwicklungsphase dieser Inselgesellschaft berechneten
Sonderfall, woraus Rousseau ausdrücklich die "Notwendigkeit" (16)
einer späteren Änderung der demokratischen Regierungsform zu einer
"glanzvolleren" ableitet. - Im Contrat Social dagegen ist Rousseau
zufolge das Volk entweder "durch einen gemeinsamen Ursprung, durch
Interesse oder Übereinkunft" verbunden (17) und am besten zur
Gesetzgebung geeignet, wenn es "weder tiefeingewurzelte Gebräuche
noch Aberglauben kennt" (18). Die auch im Contrat Social behandelten
"moeurs" bezeichnen also nicht eine unmittelbar substantielle
Sittlichkeit, sondern sind abhängige Variable der öffentlichen
Meinung (19). Auch Rousseaus berühmtes Kapitel über die religion
civile ist nicht im Sinne einer Wertgemeinschaft zu lesen, sondern -
angesichts der historischen Problemlage - als Option für die Trennung
von Staat und Kirche (20) und die Minimierung religiöser Anforderungen
auf die den großen Weltreligionen gemeinsamen Inhalte. Was Rousseau
unter dem Stichwort religion civile ausbuchstabiert, sind also gerade
die ersten Bedingungen für Toleranz als Basis einer
religiös-multikulturellen Gesellschaft. Das "Volk" der
Volkssouveränität ist nach alldem gerade in den normativen
Bestandteilen von Rousseaus Werk ein ausschließlich
verfassungsrechtlicher Begriff, der von allen ethnischen, kulturellen
oder soziologischen Momenten, sogar von der Notwendigkeit eines
Staatsgebiets abstrahiert: die Konstitution eines Volkes nur durch
das konsentierte Gesetz ist der eigentliche Inhalt des Kapitels über
den "legislateur".
_Kant_
Auch bei Kant scheint es auf den ersten Blick fraglich, ob er in
seinen Begriffen von Volk und Nation die alten Substantialitäten
wirklich verabschiedet. In der "Anthropologie" findet sich folgende
Stelle: "Unter dem Wort Volk (populus) versteht man die in einem
Landstrich vereinigte Menge, in so fern sie ein Ganzes ausmacht.
Diejenige Menge oder auch der Teil derselben, welcher sich durch
gemeinschaftliche Abstammung für vereinigt zu einem bürgerlichen
Ganzen erkennt, heißt Nation (gens)..." (21) Fast scheint es, als sei
hier von Blut und Boden die Rede, wenngleich in der harmloseren
Fassung von ethnischer Identität und Staatsgebiet. Nun ist nicht ohne
Belang, daß sich diese Ausführung in der "Anthropologie" findet, die
normative und deskriptive Aussagen verbindet oder - in Kants
Formulierung - erforscht, was der Mensch als frei handelndes Wesen
"aus sich selber macht, oder machen kann und soll" (22). Wenn Kant den
obigen Passus seiner Betrachtung verschiedener Nationalcharaktere
voranschickt, wobei letztere ohnehin nach seiner Aussage eher Stoff
für die empirische Klassifikation des Geographen als diejenige des
Philosophen abgeben (23), so ist damit auch die besondere Empirienähe
der Bestimmung dessen, was "man" unter Volk und Nation versteht,
bezeichnet. Dennoch kündigt sich eine normative, Staatsgebiet und
Abstammung überlagernde Perspektive auch in diesem Zusammenhang schon
an. Was das Volk zu einem "Ganzen" und die Nation zu einem
"bürgerlichen Ganzen" macht, kann sich in Naturwüchsigkeit nicht
erschöpfen, weil auch die auf gemeinschaftlicher Abstammung beruhende
Vereinigung zu einem bürgerlichen Ganzen davon abhängig ist, daß die
vereinigte Menge selbst sich als solche "erkennt".
Daß dieser bewußte Erkenntnisakt und nicht die zugrunde liegenden
Substantialitäten entscheidend sind, geht erst aus den unmittelbar
folgenden Formulierungen hervor. In ihnen wird näher ausgeführt, was
überhaupt die Vereinigung der trotz gemeinsamer Abstammung isolierten
Individuen (die zusammen eine bloße "Menge" sind) zu einer Nation
ausmacht. Unabhängig von der Abstammung, gehört nur der Teil der
ursprünglichen Menge zur Nation, der bereit ist, die gemeinsamen
"Gesetze" anzuerkennen und damit die Qualität von Staatsbürgern
anzunehmen. An dieser entscheidenden Stelle werden bei Kant die
Begriffe "Nation" und gemeinsame "Gesetze" geradezu identifiziert
(24). Trotz Boden und Abstammung, die - in empirischer Sicht! - eine
vorpolitische, quasi natürliche Voraussetzung der politischen
Vereinigung abgeben, bildet deren einheitsstiftendes Moment doch der
normative Aspekt des gesetzgebenden Erkenntnis- und Willensaktes.
Kants Begriff der Nation korrespondiert darum auf das genaueste mit
dem grundsätzlichen Kontraktualismus seiner Theorie, der das
konstitutive Moment des Staates ausschließlich im Rechtsakt des
ursprünglichen Vertrags sieht. Kants Bestimmungen in ihrem
Zusammenhang stellen unmißverständlich klar, daß Volk und Nation
nicht Natur sind, sondern nur als Kunstprodukt des
Gesellschaftsvertrags exisieren. So kennzeichnet Kant die Entstehung
eines Volkes als einen "actus, da eine Menge durch ihre Vereinigung
ein Volk_macht_" 25) - der produktive Voluntarismus dieser
Bestimmung ist bemerkenswert. Umgekehrt hatte Kant die Gefährdung
jeder Gesellschaft darin gesehen, daß "zwischeninne der Status
naturalis eintritt, denn in diesem hören sie auf, ein Volk zu seyn."
(26) Wenn also die Rückkehr in den Naturzustand durch den Bruch des
einheitsstiftenden Gesetzes nichts mehr übrigläßt, das aufgrund
substantieller Qualifikationen noch als Volk bezeichnet werden
könnte, so ist "Volk" nach alldem auch hier weder ein ethnischer noch
ein soziologischer Begriff, sondern ein staatsrechtlicher. Die
ausschließlich rechtliche Bedeutung dieses Begriffs - entsprechend
Kants Diktum "Der souveräne Grund des Rechts macht eine Gesellschaft"
(27) - enthält aber gerade die Abstraktion von allen empirischen
Voraussetzungen, die in der "Anthropologie" noch angegeben waren.
Deshalb konnte Kant betonen, daß unabhängig von gemeinsamer
Abstammung und Ansässigkeit auf dem gleichen Boden nur zur Nation
gehört, wer dem Fundamentalgesetz des ursprünglichen Vertrags
zustimmt. Damit ist auch umgekehrt die empirische
Abstammungsgemeinschaft für weitere Beitrittserklärungen geöffnet.
Indem so für die klassische Theorie der Volkssouveränität (erste)
Verfassunggebung und Konstituierung der Nation zusammenfallen,
etabliert sich der demokratisch konzipierte Nationalstaat nicht gegen
das allgemeine Gesetz, wie Hannah Arendt befürchtete (28), sondern
durch das allgemeine Gesetz. Auch der kontinentale demokratische
Nationalstaat des 18. Jahrhunderts beruht auf
Verfassungspatriotismus. Aber selbst diesem geht bei Kant noch die
verfassunggebende Gewalt des Volkes voraus. Sogar der
Gesellschaftsvertrag beansprucht bei Kant keine Priorität gegenüber
dem allgemeinen Volkswillen, weil dieser selbst der "Urgrund aller
öffentlichen Verträge" ist (29). Gerade dieses Apriori der
rechtsetzenden Volkssouveränität vor der rechtlichen
Institutionalisierung selbst verdeutlicht noch einmal, daß die
Identität einer Nation bei Kant nur als Prozeß freier Willensbildung
und nicht auf der Basis kommunitaristischer Begründung durch den
Wertekanon einer fertigen mystifizierten Verfassung gedacht werden
kann.
_Das Abstrakt-Allgemeine als Gewährleistung des Konkret-Besonderen_
Gegen die Konzeption der "Unteilbarkeit der Volkssouveränität" erhebt
sich allerdings noch immer der Verdacht, hier sei ein einheitliches
kollektives Entscheidungssubjekt unterstellt, das mit einer modernen
pluralistischen und multikulturellen Gesellschaft inkompatibel sei.
Dieser Vorwurf verwechselt jedoch eine normative Aussage über die
Allokation politischer Macht - alle Souveränität soll an der Basis
der Gesellschaft verbleiben - mit einer Deskription
gesellschaftlicher Verhältnisse. Allerdings ist bei Kant die
Allgemeinheit des vereinigten Volkswillens ein Produkt der
Abstraktion, wie überhaupt die Begriffe "Volk" und "Nation"
wesentlich auf der Abstraktion von allen realgesellschaftlichen
Verhältnissen beruhen. Hier stellt sich das Problem der Bedeutung
dieser Abstraktion. Der von Hegel bis Lyotard formulierte Vorwurf
gegen Kant lautet, diese Abstraktion verflüchtige jede konkrete
Wirklichkeit. Nicht nur alle tradierten gesellschaftlichen
Institutionen und substantiellen Ordnungen, sondern auch jedes
einzelne Individuum seien im Hinblick auf das Ideal kontingent und
verdächtig. Jede besondere Wirklichkeit verschwinde vor der totalen
Unbestimmtheit des reinen vernünftigen Willens 30).
Es ist jedoch zu zeigen, daß Kants Theorie keineswegs durch
Verallgemeinerung alle Heterogenität entrechtet oder Heterogenes
ausgrenzt, sondern daß umgekehrt die Abstraktion der allgemeinen
Begriffe die Voraussetzung ist für die Autonomie des Besonderen - und
zwar gerade deshalb, weil bei Kant nicht der Anspruch besteht, daß
das Allgemeine das Besondere ohne organisatorisch-institutionelle
Vermittlung in sich enthalte. Indem Kant den Begriff des Volkes
wesentlich als einen staatsrechtlichen bestimmt, beruht dieser in der
Tat auf der Abstraktion von allen konkreten gesellschaftlichen
Inhalten. Er impliziert für die zugehörigen Individuen eine
Binnendifferenzierung nach Citoyens und Bourgeois. Die Abstraktheit
des nichts als vernünftigen Citoyen entspricht der des homo noumenon
der Ethik, der von allen subjektiven empirischen Zwecken als
Beweggrund und Kriterium seines Handelns absieht, weil diese nicht
unmittelbar für alle vernünftigen Wesen verallgemeinerungsfähig sind
(31). Richtet sich die ethische Anforderung an die bewußte Motivation
jedes einzelnen, so ist das staatsrechtliche Pendant in die Struktur
der Entscheidungsverfahren selber eingebaut. Vergleichbar bleibt in
beiden Fällen der Grad der Abstraktion. Das herrschende
Mißverständnis betrifft aber Funktion und Stellenwert dieser
Abstraktion.
Was das ethische Prinzip betrifft, so hatte Kant sogar schon gegen
zeitgenössische Unterstellungen, seine Theorie fordere den Verzicht
auf alles konkrete Glück, geduldig erklärt, daß dem Menschen gerade
"nicht angesonnen werde, er solle wenn es auf Pflichtbefolgung
ankommt, seinem natürlichen Zwecke, der Glückseligkeit, entsagen;
denn das kann er nicht, so wie kein endliches vernünftiges Wesen
überhaupt; sondern er müsse, wenn das Gebot der Pflicht eintritt,
gänzlich von dieser Rücksicht _abstrahieren_" (32). Es scheint diese
Differenz zwischen Entsagung und Abstraktion zu sein, die bis zur
Gegenwart in der Diskussion des anstehenden Problems keine Beachtung
fand. Was das ethische Prüfungsverfahren der Universalisierbarkeit
individueller Maximen (kategorischer Imperativ) fordert, ist nicht
die Eliminierung konkreter Zwecke als solcher, sondern deren
Disqualifizierung als Kriterien der Maximenprüfung. Da konkrete
Glücksbestrebungen wegen ihrer Konkretheit nicht unmittelbar
generalisierungsfähig sind, können sie nicht selber das Kriterium der
Generalisierbarkeit abgeben, oder: das zu Prüfende kann nicht in den
Maßstab der Prüfung eingehen. Alle Argumentationslinien in Kants
Ethik laufen darauf hinaus, daß das Generalisierungsprinzip des
kategorischen Imperativs nicht an die Stelle der ursprünglichen
sinnlichen Motivationen der Individuen treten und diese verdrängen
soll, sondern sich zu diesen lediglich als ein Selektionsprinzip
verhält. Es läßt diejenigen konkreten Bestrebungen als vernünftig
passieren, die die ebenso konkreten und besonderen Bestrebungen
anderer nicht verletzen oder diese sogar mitbefördern 33).
Kants Prinzip der Abstraktion erweist sich bereits in der Ethik als
eines nicht der grundsätzlichen Negation, sondern der
Kompatibilisierung höchst konkreter sinnlicher Neigungen und Zwecke
der verschiedenen, in gesellschaftlichen Beziehungen stehenden
Individuen. Die Notwendigkeit ethischer Abstraktion besteht nicht,
weil das konkrete individuelle Glück unter Verdacht stünde, wie
Lyotard vermutet, sondern weil über dieses Glück die einzelnen
konkreten Individuen "gar verschieden denken" (34). Die abstrakte
Allgemeinheit des Kriteriums, das sich von jeder inhaltlichen
Spezifizierung des Glücks freihält, ist so die Voraussetzung für die
Autonomie des konkreten besonderen Glücks.
Ebenso etabliert sich die abstrakte Allgemeinheit des politischen
Willens nicht jenseits des konkreten Einzelnen, sondern besteht nur
in dessen Kompatibilisierung. Auch der abstrakte Citoyen ist nicht
der asketische Gegenpol zum partikular interessierten Bourgeois. Die
Sphäre des Politischen als Ort des Citoyen unterscheidet sich von der
Gesellschaft des Bourgeois nicht durch ein eigenes "Sachgebiet", weil
Kants Theorie keinen eigenen Rechtszweck des Staates jenseits der
Harmonisierung der Rechtszwecke der Individuen zuläßt. Das Politische
kennt keine eigenen, sondern nur gesellschaftliche Themen. Auch über
deren Auswahl wird nicht aus der Perspektive des Politischen, sondern
aus der der Gesellschaft entschieden. Was sich nämlich im Verlauf
demokratischer Verfahren als Allgemeinheit des Politischen
herausstellt, bildet kein Jenseits der Gesellschaft, sondern nur das
aus ihrer Disparität ermittelte Gemeinsame. So formuliert übrigens
sogar Rousseau: "Wenn der Widerstreit der Einzelinteressen die
Gründung von Gesellschaften nötig gemacht hat, so hat der Einklang
derselben Interessen sie möglich gemacht. Das Gemeinsame nämlich in
diesen unterschiedlichen Interessen bildet das gesellschaftliche
Band, und wenn es nicht irgendeinen Punkt gäbe, in dem alle
Interessen übereinstimmen, könnte es keine Gesellschaft geben. Nun
darf aber die Gesellschaft nur gemäß diesem Gemeininteresse regiert
werden." (35)
Diese Ausfilterung des Allgemeinen aus dem Besonderen hat zur
Konsequenz, daß das gesellschaftliche Besondere von regelnden
Eingriffen weitgehend verschont bleibt. Der schmalen Basis des
resultierenden Gemeininteresses entspricht Rousseaus Votum für "sehr
wenig Gesetze" (36). Weit davon entfernt, alle konkrete Wirklichkeit
der Gesellschaft in flächendeckender Einzelregelung totalisierend zu
erfassen, läßt die Abstraktion des Gemeinwillens - entgegen Lyotards
Vermutungen die Autonomie des Besonderen unangetastet. Insofern
besteht das Spezifische des Politischen für die Demokratietheorie der
Aufklärung nur in der Institutionalisierung von Verfahren, in denen
die gesellschaftlichen Themen aus der Perspektive der Gesellschaft
generalisierend erörtert und entschieden werden können. Dieser
Durchgängigkeit entspricht die Personalunion von Bourgeois und
Citoyen in jedem Teilnehmer dieser Verfahren. Letzterer hat nicht
etwa in einem mystischen Akt, der seine "Tugend" überfordern würde,
selbst eine Zäsur durch seine Doppelnatur zu legen, sondern gewinnt
als Bourgeois, soweit seine partikularen Interessen den prozeduralen
Automatismus als generalisierungsfähige passieren, die Qualität des
Citoyen. Gerade diese prozedurale Vermittlung von Besonderem und
Allgemeinem ist aber auf die äußerste Abstraktion des Begriffs des
Citoyen angewiesen. Nur dessen völlige inhaltliche Unbestimmtheit
garantiert, daß kein konkretes Interesse und kein besonderer
Bourgeois von der Teilnahme am Verfahren ausgeschlossen wird.
_Die Gewährleistung gleicher Verfahrensrechte_
Es ist nicht diese Abstraktion, sondern die mangelnde Konsequenz
inder Universalisierung ihrer Anwendungsbedingungen auch noch bei
vielen ihrer zeitgenössischen Vertreter, wenn die staatsrechtliche
Allgemeinheit des Volks- und Citoyenbegriffs sich dennoch in der
Praxis mit Exklusionen ethnischer Minderheiten oder der
Nichtanerkennung der Frauen als Menschen und Citoyens verband. Erst
die _Resubstantialisierung_ der einst abstrakten staatsrechtlichen
Begriffe im 20. Jahrhundert bewirkt deren prinzipielle
Unanwendbarkeit auf eine pluralistische oder multikulturelle
Gesellschaft. Ist letzteres in den drastischen Substantialisierungen
des Nationalsozialismus oder des Stalinismus auch gar nicht
beabsichtigt, in denen entweder eine Rasse oder eine Klasse zum
"Volk" erklärt wird - mit entsprechenden Konsequenzen für das jeweils
"Heterogene" -, so haben auch Substantialisierungen wie sie in
heutigen liberaldemokratischen Systemen üblich sind, ihre eigene
Problematik. Die gutgemeinte Absicht, die besondere Identität
einzelner gesellschaftlicher Gruppen durch konkrete Sonderrechte
abzusichern, führt eher zur Verfestigung der Grenzen zwischen den
Gruppen und zur Exklusion statt zur Inklusion.
Dagegen anerkennen die Abstraktionen der Aufklärungsphilosophie
gesellschaftlichen Pluralismus nicht im Wege der rechtlichen
Festschreibung partikularer Positionen, sondern durch die
Gewährleistung gleicher Verfahrensrechte trotz Ungleichheit der
gesellschaftlichen Interessenlagen. Daraus ergibt sich ihre Relevanz
und Aktualität gerade auch angesichts der heutigen gesellschaftliche
Ausdifferenzierung. Die abstrakten Prinzipien der Aufklärung, gerade
indem sie die Hypostasierung einer inhaltlichen Allgemeinheit
vermeiden und als Allgemeines nur noch das Prozedere der
Kompatibilisierung des je Besonderen bestimmen, bezeichnen das
einzige, worauf eine pluralistische und multikulturelle Gesellschaft
sich noch einigen kann.
_Ein offener Begriff der Nation_
Was einen anderen Aspekt des Nationbegriffs der Französischen
Revolution angeht, so argwöhnt Hannah Arendt, daß der Akzent auf die
konkrete Besonderheit einer nationalen Identität gelegt sei, so daß
in der französischen Deklaration der Menschenrechte bereits Freiheit
durch nationale Einheit verdrängt werde. Sie sieht den Universalismus
der proklamierten Rechte dadurch desavouiert, daß diese zugleich als
die spezifischen Rechte eines konkreten Volkes in Erscheinung treten,
das in ihrer Erringung seine besondere nationale Identität findet.
Demzufolge verschwände die Anerkennung höchster universeller Rechte
in der gleichzeitigen Proklamation des souveränen Volkswillens, dem
sie ihre Anerkennung verdanken. Damit wäre die Durchsetzung des
Prinzips der Volkssouveränität nichts anderes als die Etablierung
einer konkreten souveränen Nation (37). Wenn Hannah Arendt die Crux
des so explizierten Zusammenhangs von universellen Freiheitsrechten
und gesetzgebender Souveränität des Volkes in der späteren Auswirkung
erblickt, daß die nationalstaatlich erklärten Menschenrechte eben
nicht den Menschen, sondern nur den Staatsangehörigen zugebilligt
wurden und insbesondere für Staatenlose nicht existent waren (38), so
ist zu sehen, daß diese Analyse die Entwicklung zum chauvinistisch
pervertierten Nationalstaat auf das 18. Jahrhundert zurückprojiziert.
Diese Interpretation post festum scheitert an der Tatsache, daß die
Souveränität des Volkswillens im 18. Jahrhundert ebenso
universalistisch gedacht wurde wie die Idee der Menschenrechte selbst
und sich deshalb mit ihr verbinden konnte. Volk und Nation als
Prinzipien der Französischen Revolution basieren noch so wenig auf
quasi "natürlicher", substantieller oder historisch gewachsener
Identität, daß sie z.B. das Problem der Staatenlosigkeit nicht nach
sich ziehen können. Ausgerechnet die Jakobiner-Verfassung (es sei
hier daran erinnert, daß der Terror der Jakobiner-Herrschaft nicht
mit dieser Verfassung, sondern nur aufgrund ihrer Suspension
durchgesetzt werden konnte) garantiert nicht nur die
Staatsangehörigkeit, sondern bereits die Ausübung sämtlicher
bürgerlicher Rechte einschließlich der politischen Rechte des
Aktivbürgers "jede(m) Ausländer, der das Alter von 21 Jahren erlangt
hat, in Frankreich seit einem Jahr ansässig ist und dort von seiner
Arbeit lebt oder ein Besitztum erwirbt oder eine Französin geheiratet
hat oder ein Kind annimmt oder einen Greis ernährt"(39).
Angesichts der niedrigen Schwellen, die in diesen alternativen
Bedingungen errichtet sind, kann der Französischen Revolution nur der
Begriff einer Nation unterstellt werden, die für die
Beitrittserklärung eines jeden durch Willensakt offen ist. Nicht eine
vorausgesetzte Einheit der Nation bestimmt darüber, wer ihr zugehören
kann, sondern umgekehrt bestimmen die Menschen, welcher Nation sie
sich anschließen wollen. Das Durchgängige in universeller
Volkssouveränität und besonderer Nation, die sich dem Prinzip der
Volkssouveränität verpflichtet weiß, besteht gerade darin, daß die
Substantialität der konkret-besonderen Nation hinfällig wird, weil
ihre Identität nur noch auf der Abstraktion des freien Willensaktes
beruht. Insofern liegt die Menschenfreundlichkeit des revolutionären
Volks- und Nationbegriffs gerade in dieser Abstraktion.
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Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag im Rahmen einer
gemeinsamen Veranstaltung von Buntstift e.V., der Hessischen
Gesellschaft für Demokratie und Ökologie e.V. und der Gesellschaft
für politsche Ökologie e.V. "Wer ist das Volk? Deutsche Identität
jenseits von Kleingartenidylle und Großmachtgehabe". Ein Band, der
alle Vorträge versammelt, ist in Vorbereitung und kann ab Anfang
Juni über die HGDÖ, Ostendstr. 30, 60314 Frankfurt, bezogen werden.
D. Red.
1) Jean-Francois Lyotard, Memorandum über die Legitimität, in: Peter
Engelmann (Hrsg.), Postmoderne und Dekonstruktion. Texte
französischer Philosophen der Gegenwart, Stuttgart 1990, S. 54 ff.
(hier: S. 56 ff., 63, 65).
2) Ebd., S. 67 ff.
3) Jürgen Gebhardt, Die Krise des Amerikanismus, Stuttgart 1976,
projiziert auf die amerikanischen Gründungsväter ein
Verfassungsverständnis, das ein Produkt erst des 20. Jahrhunderts
ist.
4) Alexander Hamilton / James Madison / John Jay, Der Föderalist,
hrsg. von Felix Ermacora, Wien 1958, No. 84, S. 475 f.
5) Ebd., S. 473 ff., 476 f.
6) Zum Zusammenhang von demokratischen Verfahren und Freiheitsrechten
vgl. Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung, Frankfurt/M. 1992, S.
109 ff.
7) Daß Rousseau die Französische Revolution beeinflußt habe, wird in
relevanter Sekundärliteratur gelegentlich bestritten; z.B. Iring
Fetscher, Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des
demokratischen Freiheitsbegriffs, 2. Aufl. Neuwied/Berlin 1968, S.
263 ff. Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden.
8) Es sei hier nur daran erinnert, daß die Jakobinerverfassung
unmittelbar nach ihrem Zustandekommen suspendiert wurde: der Terror
der Französischen Revolution war nur gegen die Verfassung zu
inszenieren.
9) Jean-Jacques Rousseau, Erster Discours, in: ders., Schriften zur
Kulturkntik, hrsg. von Kurt Weigand, Hamburg 1955, S. 41.
10) Ebd.
11) Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden, Bd. XI, S. 234 und Anm. Kants
Schriften werden nach der Ausgabe n Weischedel, Frank- furt/M. 1974
ff., der handschriftliche Nachlaß wird nach der Aka- demie-Ausgabe (=
AA), Berlin 1900 ff., zitiert. Vgl. auch Kant, R 8077 AA XIX S. 604.
12) Jean-Jacques Rousseau, Entwurf einer Verfassung für Korsika, in:
ders., Sozialphilosophische und polilsiche Schriften, München 1981,
S. 552.
13) Jean-Jacques Rousseau, Du Contrat Social ou principes du droit
politique, Paris 1962, III, 4.
14) Rousseau, Entwurf einer Verfassung für Korsika a.a.O., S. 509
15) Rousseau, Du Contrat Social, a.a.O., II, 6 Abs. 5 und 9. Vgl.
a.a.O., II, 6 Abs. 6 und 8; III, 4 Abs. 2; III, 16 Abs. 1.
16) Rousseau, Entwurf einer Verfassung für Korsika, a.a.O., S. 516.
17) Rousseau, Du Contrat Social, a.a.O., II, 10.
18) Ebd.
19) Ebd., IV, 7.
20) Diese Intention ist besonders herausgearbeitet bei Niklas
Luhmann, Grundwerte als Zivilreligion: Zur wissenschaftlichen
Karriere eines Themas, in: ders., Soziologische Aufklärung 3, Opladen
1981, S. 293 ff.
21) Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, a.a.O., Bd. XII,
S. 658. Zum folgenden vgl. Ingeborg Maus, Zur Aufklärung der
Demokratietlieorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen
im Anschluß an Kant, Frankfurt/M. 1992.
22) Kant, Anthropologie, a.a.0., S. 399. Hervorhebung I. M.
23) Ebd., S. 660.
24) Ebd., S. 658 f.
25) Kant, R 7769 AA XIX, S. 511; vgl. R 7415 AA XIX, S. 367.
26) Kant, R 8043 AA XIX, S, 590.
27) Kant, R 7847 AA XIX, S. 533.
28) Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München
1986, S. 371.
29) Kant, Metaphysik der Sitten, a.a.O., Bd. VI, S. 465.
30) Jean-Franois Lyotard, Memorandum, a.a.O., S. 70 f.
31) Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, a.a.O., Bd. VII, S.
87 f., 59.
32) Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein,
taugt aber nicht für die Praxis, a.a.O., Bd. XI, S. 131. Hervorhebung
im Original.
33) Kant, Kritik der praktischen Vemunft, a.a.O., Bd. VII, S. 193;
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, a.a.O., S. 62 f.
34) Kant, Über den Gemeinspruch,.., a.a.O., S. 145.
35) Rousseau, Du Contrat Social, a.a.O., II, 1, Abs. 1.
36) Ebd., IV, 1, Abs. 2.
37) Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, a.a.O.,
S. 371.
38) Ebd., S. 466.
39) Französische Verfassung von 1793, Art. 4 des Acte constitutionel,
Günther Franz (Hrsg.), Staatsverfassungen, Darmstadt 1975, S. 379.
aus: Blätter für deutsche und internationale Politik, 5/94
mfg Martin Blumentritt http://www.martinblumentritt.de/
Der Staat Israel und nichts anderes ist die Antwort auf Auschwitz.
Das darf niemals vergessen werden.