Post by Jakob AchterndiekAm 09.11.2018 um 19:52 zitierte Christian Weisgerber aus der
[..] Auch in der Literatursprache – Belletristik wie Trivial-
literatur – wird vielfältig von der Grundregel abgewichen, [..]
Viele Autoren verhalten sich in diesem Bereich außerordentlich
individualistisch. Die Verwendung des Indirektheitskonjunktivs
hat sich in der Literatursprache zu einem genre- und autoren-
spezifischen Stilmittel entwickelt.
Was die Unfallstatistik im Verhältnis zur Straßenverkehrsordnung,
Beide schreiben auf, was heutzutage alles möglich ist.
Im Konflikt zwischen Sprachlehrern und Sprach-Beobachtern sollte
jeder prüfen, was die Sprache als Instrument der Beschreibung und
Verständigung durch die beschriebenen Veränderungen gewinnt und was
sie verliert: Wo wird sie genauer, wo wird sie nur bequemer? Das
Ergebnis dieser Abwägung ist für mich, daß ich für den Gebrauch
im Unterricht einer konservativen, normativen, präskriptiven
Grammatik das Wort rede. - Der Lehrer muß die nur auch begründen
und durch eigenes Beispiel erfahrbar machen können. Daran scheint
es inzwischen zu hapern.
Wohlan:
1 Er rief mich heute morgen an und sagte, sein Auto sei nicht angesprungen
und er müsse mit dem Bus kommen, was länger daure.
2 Wie 1, aber '... sagte, sein Auto wär(e) nicht angesprungen und er müsste
mit dem Bus kommen, was länger dauern würde.
3 Er hat angerufen und gesagt, sein Auto ist nicht angesprungen und er muss
mit dem Bus kommen.
4 Er hat um sieben angerufen: Sein Auto springt nicht an, er kommt mit dem
Bus, also etwas später.
Ich sehe verschiedene Normalitätsgrade, das wird in der Gruppe hier sicherlich
nicht einheitlich gesehen, für mich von 'geschraubt' bis 'alltäglich'.
Semantisch gibt es für mich so gut wie keine Unterschiede, bis auf den Punkt,
dass der Konjunktiv eine Distanzierung à la 'ich bin ja nicht so ganz davon
überzeugt, dass das stimmt' beinhalten kann - aber nicht muss. Denselben
Effekt könnte man bei Satz 4 mit einem Blinzeln ('du kennst ja seine Masche'),
mit hochgezogener Augenbraue oder ironisierend intonierter Wiedergabe der
zitierten Aussage erzielen. In der Schriftsprache stehen die prosodischen und
nonverbalen Mittel nicht zur Verfügung, sie ist in dieser Hinsicht beschränkt
und nimmt manchmal zu unbeholfenen Formeln wie 'Achselzucken' und 'wegwerfende
Handbewegung' Zuflucht. Der Konjunktiv I der Nachrichtensprache bedeutet u.a.
'Wiedergabe der Äußerung eines anderen', ohne eine eigene Position dazu zu
beziehen. Auf ein solches 'Redemittel' kann man nicht gut verzichten. Im
mündlichen Alltag tut's der Konjunktiv II oder der Indikativ + Prosodie.
In diesem Punkt sehe ich keinen Informationsgewinn des Konjunktivs außer:
Der Sprecher kann seltenere Gebrauchsweisen der grammatisch bildbaren
Verbformen korrekt anwenden, er ist sprachlich gebildet. Sehr 'bildungsferne'
Bevölkerungsanteile können mit dem Konjunktiv I gar nichts anfangen, sie
halten das für falsches Deutsch, weil sie die Formen nicht gelernt haben,
denn in ihrer Umgebung wird es nicht benutzt.
Überspitzt könnte man sagen, dass hinter dem, was Du 'Bequemlichkeit' nennst,
im Grunde eine Benimmregel steckt: Wer etwas auf sich hält, sollte das auch
durch ein möglichst breites Ausschöpfen seiner sprachlichen Möglichkeiten
als Teil seines Habitus zu erkennen geben. Unberechtigterweise wird dem oft
ein semantischer Mehrwert zugeschrieben.
Ich stimme jedoch darin zu, dass ein Deutschlehrer als Vorbild ein differen-
zierendes sprachliches Repertoire auch im Unterricht vorleben und nicht auf
der Ebene einfachsten Umgangsdeutschs verharren sollte. Zur Sprachkompetenz
gehört auch das Verstehen, und um verstehen zu lernen, muss vorgeführt
werden, was es alles gibt - von diesem allerdings bevorzugt das Häufigste.
Der Konjunktiv I ist alles andere als tot, aber er hat sich auf spezielle
Residuen zurückgezogen. Als Mittel einer mehr oder weniger stark
distanzierenden Redewiedergabe ist er Teil der Sprachwirklichkeit und gehört
in den Sprachunterricht. Ich würde sogar sagen, dass diejenigen deutschen
'Unterschichtler', die ihn für falsch halten, ihn im Unterricht wie
Fremdsprachenlerner per Umformungsübungen vermittelt bekommen sollten, damit
sie Nachrichten verstehen. Das könnte heutzutage auch bei vielen Abiturienten
nicht schaden. Mag sein, dass der Konjunktiv I im Deutschunterricht der
SEK II (?) behandelt wird.
Gruß Ralf Joerres