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Das Dokument des Grauens -47- "M" (1931)
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Ralf Ramge
2004-08-24 16:26:52 UTC
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"M" (1931)

"M" ... dieser Buchstabe steht in Cineastenkreisen für mehrere Dinge.

Da wäre zuerst die Verwendung dieses Buchstabens als Titel für einen Film.
Kurz, einprägsam und in jeder Hinsicht aus der Masse fülliger Filmtitel
herausragend. Eine Idee, so einfach wie genial.

Dann wäre da noch der Film, für welchen dieser Buchstabe steht. "M" (1931) gilt
als der beste Film, welches das deutsche Kino bislang hervorbrachte. Der
Buchstabe wurde mit zunehmendem Alter immer mehr zu einem Symbol innerhalb der
Filmgeschichte. Kein anderer deutscher Film wurde so oft durch Zitate oder
Nachahmungen gewürdigt; von Woody Allen ("Shadows and Fog" (1992)) über Robert
Altman ("The Player" (1992)) oder Michael Powell ("PEEPING TOM" (1959)) bis
hin zu Firmenlogos des Musiksenders MTV oder visuellen Tricks von Regisseuren
wie David Fincher reichen die Anleihen. "M" war anfangs nur ein Buchstabe, aber
mit zunehmendem Alter wurde daraus immer mehr ein Symbol für filmische Qualität.

Als der französische Regisseur Jean-Luc Godard seine berühmte Dokumentation
"Cinéma de notre temps: Le dinosaure et le bébe, dialogue en huit parties entre
Fritz Lang et Jean-Luc Godard" (1967) drehte, stellte er Fritz Lang die Frage,
welchen seiner Filme er als den besten ansähe. Fritz Lang antwortete ohne großes
Nachdenken: "M" (1931). Manchem durchschnittlichen Kinogänger mag diese
Entscheidung zuerst irritieren, zu stark sind die visuellen Eindrücke von Filmen
wie "METROPOLIS" (1926), Langs wohl populärstem Film. "M" (1931) empfindet man
leicht als angenehme, kleine Produktion, hübsch anzusehen, aber nicht
spektakulär. Doch Lang nannte hier den richtigen Film, wie man bei genauerem
Hinsehen leicht selbst feststellen kann. "M" (1931) ist sein mit Abstand
virtuosestes und vor allem komplexestes Werk - hübsch anzusehen, völlig richtig,
aber unter der Oberfläche lauert ein auf den ersten Blick schwer auszumachendes
Monstrum von durchaus literarischer Qualität, ein wahrhafter Geniestreich. "M"
(1931) erzählt oberflächlich von der Jagd auf einen Mörder, einem Wettlauf
zwischen der Polizei und einem Verbrechersyndikat. Doch "M" (1931) ist weitaus
mehr. Der Film steckt bis unter Rand voller filmischer und erzählerischer
Innovationen, welche von einer ausgefeilten Schnittechnik bis hin zu nahezu
unmerklich und damit umso meisterlicher eingesetzten Details wie zum Beispiel der
Kamerafahrt durch ein vergittertes Fenster reichen. Der Film ist von Anfang bis
Ende durchgehend mit Symbolik versehen, in einigen Punkten ziehen sich diese
Symboliken von der ersten bis zur letzten Minute durch den Film, zum Beispiel
der stetige Kampf gegen den Fluß der Zeit. Der Film schildert nicht nur die
Suche nach einem Mörder, sondern er erzählt auch von einem Krieg, fast
unmerklich mit stilistischen Mitteln eines Kriegsfilms inszeniert. Er ist
stellenweise ähnlich technokratisch wie "METROPOLIS" (1926), serviert diese
Technokratie jedoch dezenter und stellt sie in den Dienst des Films, nicht
umgekehrt. "M" (1931) ist eine Dokumentation über das Berlin des Jahres 1930,
von der gesellschaftlichen Struktur bis hin zum Selbstwertgefühl der Berliner in
den Zeiten der Wirtschaftsflaute und der Nachwehen des ersten Weltkrieges. Und
natürlich steckt auch eine Dosis Horror drin, welche man zwar erst ausgraben
muß, aber die dafür dann umso faszinierender wird.

"M" (1931) vollständig zu analysieren würde ein eigenes Buch füllen. Dies
alleine wäre zwar nicht schlimm, aber Sie lesen diese Seiten ja nicht, weil Sie
etwas über die Gesellschaft der sterbenden Weimarer Republik lesen wollen,
sondern weil Sie sich für Horror interessieren. Daher wird sich dieses Kapitel
inhaltlich auf das Wesentliche beschränken. Wir werden kurz auf die Handlung des
Films eingehen, hier jedoch weniger als gewohnt; eine streng chronologische
Betrachtung aufeinanderfolgender Szenen entfällt, da der Film mit häufigen
Kreuzverweisen durchsetzt ist und eine solche Heransgehensweise bei Langs Werk
nicht dienlich wäre. Wir werden die Vorgeschichte des Films beleuchten, ebenso
wie die in ihm Mitwirkenden und deren Herkunft. Wir stellen den Film in einen
Kontext zum Horror und zeigen auf, wie er mit der Serienmörderthematik umgeht.
Wir analysieren die ersten Filmminuten stellvertretend für den Rest des Films
akribisch, den Rest des Films nur ausschnittsweise. Wir analysieren Langs
vortrefflichen Umgang mit suggestivem Ton. Abschließend zeigen wir noch einige
Details auf, wie zum Beispiel den bereits genannten unterschwelligen Kriegsfilm,
aber hier steigen wir nicht mehr in die Tiefe ein - dies bleibt dann dem
geneigten Leser und Schulklassen überlassen.

Bevor wir beginnen, bedarf es jedoch noch einiger klärender Worte. Wenn Sie sich
"M" (1931) in der Erwartung eines reinrassigen Horrorfilms ansehen, werden Sie
maßlos enttäuscht sein. Denn "M" (1931) ist diebezüglich einer der schwierigsten
Grenzfälle. "M" (1931) ist kein Horrorfilm, er steht lediglich im Kontext zum
Horror. Die meisten Zuschauer dürften "M" (1931) als reinen Kriminalfilm
einstufen.
Weshalb er es trotzdem zu einem eigenen Kapitel in diesem Buch schaffte, ist auf
den ersten Blick nur schwer zu erkennen. Die Gründe hierfür sind vor allem von
filmhistorischer Natur.
Als "M" (1931) in den Kinos anlief, war er aus der Sicht des Publikums schon
von beinahe dokumentarisch Natur. Fritz Lang präsentierte einen Film, der in
der Alltagswelt des Zuschauers spielte und auch bewußt aktuelle Bezüge schuf.
Lang baute Anspielungen auf aktuelle Geschehnisse und politische Entwicklungen
in dem Film ein. Tageszeitungen sind allesamt auf den Herbst 1930 datiert.
Ähnlich wie einst Bram Stokers "Dracula, or the Undead", jedoch wesentlich
konsequenter, transportierte Fritz Lang die erzählte Geschichte aus einer
Phantasiewelt heraus und legte sie direkt vor der Haustür der Zuschauer ab. Wenn
nach der Vorführung des Filmes die Lichter im Saal wieder angingen und man das
Kino verließ, kehrte man nicht nur in die eigene Stadt zurück, sondern man
betrat die Welt von "M" (1931).
Die Geschichte, welche Fritz Lang in seinem Film so realistisch wirkend
erzählt, bezog ihre Energie aus den Ängsten des zeitgenössischen Publikums.
Da waren die psychologischen Nachbeben des ersten Weltkrieges, welche Lang sehr
geschickt nutzte, um das Publikum unterschwellig unter Druck zu setzen. Da war
die wirtschaftliche Katastrophe und die mit ihr verbundenen Sorgen, welche die
Menschen plagten und in "M" (1931) nicht nur nicht beschönigt, sondern ausgebaut
werden. Und da war natürlich der unglaubliche Medienrummel um Peter Kürten,
welcher landesweit Eltern in schreckliche Angst um ihre Kinder versetzte, sobald
diese auch nur kurz außer Haus waren. Diese Existenzängste bilden die Basis für
"M" (1931) und werden durch ihn schonungslos intensiviert. Derartiges ist ein
definitives Merkmal des Horrors, welches bei "M" (1931) jedoch mit steigendem
zeitlichen Abstand zum Jahr seiner Uraufführung immer mehr verblasste und
inzwischen nur noch dann bemerkt wird, wenn man explizit darauf hinweist.
"M" (1931) führt vor Augen, daß Horrorelemente zwar die Zeit überdauern, ihre
Wirkung jedoch in hohem Maße vergänglich ist. Aber dies war der Film, welcher
das ausführte, was Edward van Sloanes schnell zensierter Auftritt vor dem
Publikum am Ende von "DRACULA" (1930) lediglich versuchte: Er vollzog den
Schritt des Schreckens aus einer fiktiven Welt ohne Realitätsbezug in den Alltag
des Zuschauers.
Der zweite wichtige Aspekt ist die filmhistorische Bedeutung des Films. "M"
(1931) war der Vorläufer eines Subgenres des Horrors, welches sich in den 60er
Jahren entfaltete. Filme wie "PEEPING TOM" (1959), "PSYCHO" (1960) und "SEI
DONNE PER L'ASSASSINO" (1964) legten die Grundsteine für die Subgenres des
Giallos und des Slasherfilms. Sie waren die Väter von Filmen wie "REAZIONE A
CATENA" (1971), "THE TEXAS CHAIN SAW MASSACRE" (1974), "BLACK CHRISTMAS" (1974),
"HALLOWEEN" (1978), "THE SILENCE OF THE LAMBS" (1991), "HENRY: PORTRAIT OF A
SERIAL KILLER" (1986) und "MONSTER" (2003). Fritz Lang war den legendären
Vätern des Serienkillerhorrors Michael Powell, Alfred Hitchcock und Mario Bava
um etwa dreißig Jahre voraus, im Filmbusiness eine unvorstellbar lange Zeit und
nicht nur das, er bildete für sie auch die Basis ihrer eigenen Filme. Der
Einfluß von "M" (1931) auf die genannten drei Väter des Horrors war extrem, auch
durch die zwischen ihnen liegenden drei Jahrzehnte filmischer Entwicklung und
vieler Elemente aus "M" (1931) und seinem indirekten Nachfolger "DAS TESTAMENT
DES DR. MABUSE" (1932), die sich im Laufe dieser Zeit zu Standards der
Inszenierung von Thrillern entwickelten. Man lehnt sich nicht zu weit aus dem
Fenster, wenn man prognostiziert, daß heutige Genrefilme wahrscheinlich nicht
in gleicher Form daherkämen, wäre "M" (1931) nie gedreht worden. Wenn man die
Analogie der Väter des modernen Serienkillerhorrors weiterführt, muß man
"M" (1931) konsequenterweise als dessen Großvater bezeichnen.
Aber wie bereits angedeutet: Wenn Sie sich selbst nicht als filmhistorisch
interessierter Leser verstehen, sondern dieses Buch als Ratgeber für die
Qualität von Horrorfilmen sehen, sind sie mit "M" (1931) völlig falsch beraten.



"M" (1931) erzählt von der Jagd auf Hans Beckert im Berlin der jungen 30er
Jahre. Beckert ist ein Serienmörder und seine bevorzugten Opfer sind Kinder.
Zum Beginn des Films ist die Suche nach Beckert bereits auf ihrem Höhepunkt
angelangt, die Polizei und die Bevölkerung bereits in Aufruhr.
Die kleine Elsie Beckmann wird auf ihrem Zuhauseweg von einem Unbekannten
angesprochen und folgt ihm. Wenig später ist Elsie Beckmann tot.
Der Kindermörder teilt die Bevölkerung in drei Gruppen: die Polizei, die
verängstigte Bevölkerung und die Berliner Unterwelt. Die Polizei ist hilflos und
versucht mit allen Mitteln, dem noch namenlosen Mörder auf die Spur zu kommen,
aber er hinterließ bei seinen Morden nie irgendwelche Spuren, welche die
Ermittler weiterbringen. Die Polizei reagiert mit immer mehr Kontrollen, von
Verhören über Hausdurchsuchungen bis hin zu großangelegten Razzien. Die Ganoven
Berlins sind deshalb sehr verärgert, denn die Suche nach dem Mörder
beeinträchtigt hierdurch ihre eigenen Geschäfte und dementsprechend haben sie
ebenfalls ein großes Interesse daran, daß Beckert endlich geschnappt wird.

Die Polizeiermittlungen werden von Inspektor Karl Lohmann geleitet, einem
rundlichen Mann, der viel Gemütlichkeit ausstrahlt und im Milieu der Unterwelt
bekannt und durchaus nicht unbeliebt ist. Doch Lohmanns Nerven liegen zunehmend
blank - die Öffentlichkeit, die Presse und vor allem die Politik setzen ihn
zunehmend unter Druck. So beschließt Lohmann in seiner Hilflosigkeit, eine
gigantische Polizeiaktion loszutreten: Jeder Garten, jede Hecke soll durchkämmt
werden, die Razzien werden verstärkt und Hausdurchsuchungen flächendeckend
durchgeführt. Der Mörder weilt mit Sicherheit in Berlin und so soll jede Wohnung
genauestens und möglichst unauffällig unter die Lupe genommen werden -
insbesondere jene mit Holztischen, denn seinen letzten Brief an die Presse
verfasste der Mörder auf einem solchen, wie die Unregelmäßigkeiten in seiner
Handschrift erkennen lassen.

Lohmanns Gegenpart in der Unterwelt ist Schränker, ein sagenumwobener
Supergangster. Auch Schränker plant eine Maßnahme, welche ganz Berlin umfasst.
Doch er setzt nicht wie Lohmann auf Kontrollen, sondern auf reine Observation.
Seine Geheimwaffe sind jene Menschen, welche ein fester Bestandteil des
Straßenbildes Berlins sind und sich daher nahezu unauffällig überall bewegen
können: die Zunft der Bettler.

Einer jener Bettler, ein alter und völlig blinder Luftballonverkäufer, hört
eines Tages einen Mann ein Lied pfeifen. Der Alte erbleicht, denn genau dieses
Lied pfiff ein Mann in Begleitung eines kleines Mädchens, welcher bei ihm einen
Luftballon kaufte - am Tag der Ermordung von Elsie Beckmann. Er ruft sofort
einen sehenden Kollegen herbei, der sich an Beckerts Spur heftet.

Als er Zeuge wird, wie Beckert ein kleines Mädchen anspricht, kritzelt dessen
Verfolger in seiner Not mit Kreide den Buchstaben "M" auf seine Handfläche und
rempelt Beckert im Vorbeigehen an. Hierbei drückt er seine Handfläche auf
Beckerts Schulter und kennzeichnet ihn so als den Mörder.

Etwa zur gleichen Zeit durchsucht ein Polizeibeamter Beckerts Wohnung und wird
stutzig. Auf einem breiten Fensterbrett finden sich Farbreste eines Stiftes der
gleichen Art wie jenem, welchen der Mörder beim Schreiben seines letzten Briefes
benutzte. Und bei genauerer Suche finden Lohmann und er Abdrücke der Mine im
weichen Holz des Fensterbrettes, welche identisch sind mit Passagen des
Schreibens.

Sowohl der Polizei als auch der Unterwelt ist der Mörder somit bekannt. Doch
Lohmann muß Beckert erst noch finden, wohingegen die Ganoven ihm bereits
unmittelbar auf den Fersen sind. Beckert bemerkt seine Verfolger jedoch und
flüchtet in ein mehrstöckiges Bürohaus. Es ist kurz vor Feierabend und die
Gangster sind zu spät; die Menschen verlassen das Gebäude und es wird von der
Wachmannschaft für die Nacht verschlossen.

Schränker reagiert umgehend. Seine Leute überwältigen den Wachmann an der Pforte
und brechen in das Gebäude ein. Jeder Raum soll durchsucht werden, bis man den
Mörder gefasst hat. Doch die Zeit und die Gegebenheiten sind gegen sie; bis zum
Morgen müssen sie Beckert gefunden haben und das Gebäude gehört dummerweise zu
einer Bank und ist entsprechend gesichert.
Beckert hat sich in einer Abstellkammer unter dem Dach verschanzt und ahnt
nicht, was in den Fluren des Bankgebäudes auf ihn wartet. Er hat aber auch ein
anderes Problem, denn der Wachmann hat ihn in dem Abstellraum eingeschlossen und
er muß es selbst schaffen, dort herauszukommen.
Beckerts Chancen scheinen sich zu verbessern, als der gefangene Wachmann an der
Pforte es schafft, einen Alarm auszulösen. Schränker und seinen Leuten bleiben
nur noch fünf Minuten, um zu verduften. Doch Schränker spielt auf volles Risiko
und tatsächlich schaffen sie es, Beckert zu finden und zu entführen, bevor die
Polizei eintrifft.

Lohmann kann nicht verstehen, was das Ziel dieses Einbruchs gewesen sein könnte.
In jeden Raum wurde eingebrochen, im Tresorraum wurde sogar ein Loch durch die
Decke gestemmt, aber der Tresor wurde nicht angetastet. Genauer gesagt wurde
absolut nichts gestohlen. Doch die Einbrecher haben bei ihrer panischen Flucht
einen der Ihren zurückgelassen und Lohmann setzt diesen mit zwielichtigen
Methoden unter Druck. Er behauptet, der Wachmann von der Pforte sei getötet
worden und schließlich bricht der Beschuldigte unter diesem Vorwurf zusammen und
erklärt, man habe den Kindermörder entführt, um ihm in einem alten Fabrikgebäude
den Prozeß zu machen.

Beckert befindet sich derweil vor dem Tribunal der Gesetzlosen. In einem
verzweifelten Plädoyer versucht er, Verständnis für seine Situation zu wecken
und schildert den grausamen Zwang, unter welchem er die Morde beging. Sein
Verteidiger versucht nicht minder verzweifelt, Recht und Ordnung gegenüber dem
Mob durchzusetzen, der letztlich nur eines will, nämlich Beckert lynchen.
Doch dieser Plan wird vereitelt, als Lohmanns Männer eintreffen und Beckert
verhaften.


Es schien für lange Zeit, als habe Fritz Lang seinen Zenith als Filmemacher
überschritten. Nach großen Klassikern wie "DER MÜDE TOD" (1921), "DR. MABUSE
(1922), "DIE NIBELUNGEN" (1924) und "METROPOLIS" (1926) schien es, als könne
Langs Stern nicht noch weiter steigen und er die Qualität seiner bisherigen
Werke nicht mehr erreichen, geschweige denn übertreffen. Der dreistündige
"Spione" (1928) blieb hinter den Erwartungen zurück, beinahe wäre es ein Flop
geworden. Und danach begann der Siegeszug des Tonfilms, gegen welchen sich Fritz
Lang sehr vehement aussprach. Der in typischer Manier von Fritz Lang ebenfalls
fast dreieinhalb Stunden lange Science-Fiction-Film "Die Frau im Mond" (1929)
schien das Ende von Langs Karriere als Filmregisseur einzuläuten. Der Film war
opulent, bot viele technische Sensationen (darunter auch einen Flug zum Mond),
er war durch und durch auf die Befriedigung des Geschmacks der breiten Masse
ausgelegt - bis auf einen Punkt, denn auch "Die Frau im Mond" (1929) war ein
Stummfilm.
Die UFA gab sich alle Mühe, Fritz Lang davon zu überzeugen, daß Stummfilme nicht
mehr vernünftig zu vermarkten seien und daß er bitte "Die Frau im Mond" (1929)
nachvertonen möge. Fritz Lang war in dieser Frage wesentlich zimperlicher als
zum Beispiel sein englischstämmiger Kollege Alfred Hitchcock, der sich für
"Blackmail" (1929) zu diesem Schritt erweichen ließ - Fritz Lang lehnte ab.
Damit befand sich die UFA auch bei "Die Frau im Mond" (1929) im Teufelskreis
der technischen Entwicklung. Einerseits verlangten die Besucher Tonfilme. Aber
durch die miserable Wirtschaftslage trauten sich nur wenige Kinobesitzer, die
entsprechende teure Ausrüstung anzuschaffen, denn es gab einerseits noch keinen
einheitlichen Standard für die Tonwiedergabe und durch die Rezession gingen die
Besucherzahlen um fast ein Drittel zurück. Die Filmstudios wollten in der Folge
keine Tonfilme produzieren, die nirgends gezeigt werden konnten. Fritz Lang
sprengte mit seinem rigorosen "Nein" diese Abwärtsspirale, allerdings nicht im
Sinne der UFA. Die Folge war ein Streit und Fritz Lang stieg aus seinem Vertrag
mit der UFA aus. Sein Karriereende schien damit besiegelt.
Auch in Langs Privatleben gab es ein einschneidende Veränderung. Seine
langjährige Beziehung zu Thea von Harbou, seiner langjährigen und an seinem
Erfolg zu einem großen Teil mitverantwortlichen Kollaborateurin, ging in die
Brüche, nachdem Fritz Lang ein Verhältnis mit Gerda Maurus, der
Hauptdarstellerin aus "Die Frau im Mond" (1929) begonnen hatte.
19 Monate lang blieb es still um Deutschlands einstige Regieikone. Dann kreuzte
jedoch ein junges und aufstrebendes Filmstudio den Weg Fritz Langs: Nero Film.

Der Vertrag mit Nero Film gab Fritz Lang neuen Auftrieb. Zu aller Überraschung
taten sich Fritz Lang und Thea von Harbou für "M" (1931) wieder zusammen. Würde
der Versuch einer erneuten Zusammenarbeit Früchte tragen? Würde Lang, der sich
so lange gegen den Tonfilm wehrte, mit dem neuen Medium zurechtkommen? Wäre der
neue Film gar ein Rückfall in die 20er Jahre, das Thema des Film zeigte doch
bereits in diese Richtung? Fritz Langs neues Werk wurde schon im Vorfeld von der
Presse und der Filmindustrie mit Argusaugen beäugt.
Aber Fritz Lang wäre nicht mehr der große Innovator gewesen, hätte er sich für
"M" (1931) kein hohes Ziel gesetzt. Sicher, er verachtete den Tonfilm, da dieser
die Kunst des Filmemachens und der Bildsprache mit Füßen trat. Aber Lang setzte
sich hier ein Ziel: er wollte es schaffen, den Tonfilm trotz all seiner Nachteile
im Geiste eines Stummfilmers zu nutzen und den Ton vom einen die Kunst
banalisierenden Störfaktor selbst zu einem Kunstwerk erheben.
Tonfilm als Kunst war keineswegs eine neue Idee. Als Vorbild für "M" (1931)
dienten hier Arbeiten Walter Ruttmanns. Ruttmann hatte zuerst mit "Berlin:
Symphonie einer Großstadt" (1927) auf sich aufmerksam gemacht, einer ungeheuer
erfolgreichen Dokumentation über das Treiben in Berlins Straßen. Dies war jedoch
ein Stummfilm und das widersprach letztlich der Bezeichnung als Symphonie im
Titel des Films. Im Mai 1930 wurde in Berlin Ruttmanns neuerliches
dokumentarisches Experiment aufgeführt, "Weekend" (1930). Ruttmanns neues Werk
tat genau das Gegenteil von dem, was die Berlin-Dokumentation tat: Er zeigte
einen Film ohne Bilder. Bei "Weekend (1930)" handelt es sich um eine komplexe
Toncollage, welche ein typisches Wochenende beschreibt. Vorgeführt wurde das
Werk mit geschlossenem Vorhang. Einem Freund Walter Ruttmanns, dem Tontechniker
Paul Falkenberg, imponierte dieser Prototyp des Erzählens anhand von Geräuschen
sehr und er beschloß, bei seiner nächsten Arbeit die aus "Weekend" (1930)
gewonnenen Erkenntnisse gezielt einzusetzen. Wie Sie sicher schon erraten haben,
war Falkenbergs nächste Arbeit die Vertonung von "M" (1931).
Fritz Lang war von Ruttmanns Werken ebenfalls sehr angetan(334). Er übernahm die
zwei herausragendsten Arbeiten Ruttmanns in das Konzept für seinen eigenen Film:
die Dokumentation des zeitgenössischen Berlins und jenes der Toncollagen als
narratives Mittel.

Auf Fritz Langs Inszenierung des Tons werden wir noch zu sprechen kommen, soviel
sei bereits verraten. Doch wie sieht es mit der Dokumentation Berlins aus? Fritz
Lang weitete dies aus; Berlin war eine Sache, doch Fritz Lang wollte auch die
Hintergründe des Lebens in der Großstadt nicht unerwähnt lassen. Die politische
Lage war im Jahr 1930 hochgradig verworren, sie lag ebenso am Boden wie die
Wirtschaft. Das Volk knabberte nicht nur an den Nachwirkungen des ersten
Weltkrieges, was ein Syndrom mit sich brachte, welches in seiner Intensität mit
jenem der Amerikaner nach den niederschlagenden Erfahrungen des Vietnamkriegs
durchaus vergleichbar war. Es war auch die Zeit einer katastrophalen
Entwicklung. Protestwähler hatten Hitlers nationalsozialistische Partei zur
zweitstärksten Fraktion im Parlament gemacht. Hitlers Privatarmee, die SA,
veranstaltete im Herbst 1930 Menschenjagden auf politisch Andersgesinnte, vor
allem auf Mitglieder der KPD. Hitlers politische Doktrin wurde durch den
wirtschaftlichen Ruin des Landes noch weiter unterstützt, Unruhen in Form von
Straßenschlachten waren in Berlin an der Tagesordnung. Dies musste aus Sicht von
Fritz Lang in "M" (1931) auf jeden Fall einfließen(335).

Doch nicht nur die Politik, sondern auch die Stadt Berlin selbst sollte
repräsentiert werden. Was charakterisiert eine Metropole am ehesten? Fritz Lang
entschied sich hier für den Puls der Großstadt, ihr Eigenleben, ihr Ticken. Das
Leben in einer Großstadt wird durch den Fluß der Zeit diktiert; Menschen strömen
morgens zur Arbeit und am nachmittag wieder nach Hause, öffentliche
Verkehrsmittel fahren den Tag über nach festen, sich rhythmisch wiederholenden
Zeitspannen ihre Strecken ab, der Wechsel zwischen Tag und Nacht - der Moloch
Stadt diktiert das Leben der darin lebenden Menschen. In "METROPOLIS" (1926)
hatte Lang dieses Thema bereits in überzeichneter Form auf den Punkt gebracht,
in "M" (1931) taucht es abgeschwächt erneut auf. Eine ähnliche, beinahe
karikative Darstellung wie in "METROPOLIS" (1926) hätte jedoch dem
Realitätsgedanken hinter "M" (1931) widersprochen, weshalb Lang sich in seinem
neuen Film weitgehend auf Symbole beschränkte, welche aus dem Hintergrund Einfluß
auf den Film nehmen. In "M" (1931) steht alles unter dem Druck der Zeit. Die
Polizei und Schränkers Bande müssen Ergebnisse liefern, bevor ein neuer Mord
geschieht. Auch hier strömen Menschen pünktlich auf die Minute aus einem
Burögebäude heraus, als die Stunde des Feierabends naht. Die nächtliche Suche
nach Beckert muß bis zum Morgen abgeschlossen sein. Nach dem Alarm des Pförtners
bleiben nur fünf Minuten, um Beckert doch noch zu finden. Über den ganzen Film
verstreut tauchen Uhren auf, welche den Fluß der Zeit verdeutlichen. "M" (1931)
ist vom Fluß der Zeit diktiert und der Großteil der Zeitspannen und Fristen ist
von den äußeren Umständen diktiert und entzieht sich der Kontrolle der
Protagonisten, ähnlich wie es im Leben eines Stadtbürgers völlig normal ist.
Diese Abbildung des Tickens der Großstadt in "M" (1931) war keine triviale
Aufgabe, was vor allem darin begründet liegt, daß die Stadt selbst keine
wesentliche Rolle in dem Film spielen durfte - denn "M" (1931) wurde vollständig
im Studio gedreht und beinhaltet keine realen Bilder Berlins.


Ein Regisseur, eine Szenerie, Inhalte - diese Bestandteile reichen für einen
Film noch nicht aus. Es fehlen noch Schauspieler. Bei allen bisher genannten
Punkten strebte Fritz Lang eine Höchstleistung an und da ein Filmemacher
unmittelbar von seinen Akteuren und Aktricen abhängig ist, brauchte er auch
Darsteller, welche ein ähnlich hohes Niveau boten (eine Grundregel, welche
viele Produzenten vergessen oder versuchen, hierbei auftretende Mängel durch
zusätzliche Investitionen in andere Bereiche zu übertünchen - und sei es nur
das Marketing). Fritz Lang wusste, wo er die geballte Energie und Leistungskraft
der deutschen Schauspielkunst finden konnte: im Theater. Und dort bediente sich
Fritz Lang in hohem Maße; in "M" (1931) sind selbst die Nebenrollen mit
erfolgreichen Vertretern der deutschen Bühnenwelt besetzt, lediglich die
Kinderrollen und einige Statisten bilden hier eine Ausnahme.

Der bekannteste Darsteller, welchen Fritz Lang für "M" (1931) rekrutierte, war
Gustaf Gründgens. Gustaf Gründgens war bereits ein Star auf der Bühne, als der
Tonfilm aufkam und Gründgens tat als Vollblutschauspieler das genaue Gegenteil
von dem, was die Stars und Sternchen Hollywoods angesichts des neuen Mediums
taten: Gründgens freute sich darüber, denn nun konnte er seine Begabung einem
größeren Publikum vorführen. Seine Filmkarriere begann er umgehend mit
"Hocuspocus" (1930) und war fortan regelmäßig sowohl auf der Bühne als auch auf
der Leinwand zu bewundern. Gründgens drehte bis zu seinem Tod im Jahre 1963
insgesamt etwa drei Dutzend Filme, doch wir werden ihm nur noch in seiner
letzten Arbeit als Darsteller und Regisseur, "FAUST" (1960), nochmals treffen.
In "M" (1931) wurde der bekannte Darsteller jedoch nicht für die Titelrolle
besetzt, denn hier hatte Fritz Lang ein ganz anders As im Ärmel, sondern
Gründgens spielte vielmehr den Erzgauner Schränker.

Für die Rolle des Mörders Hans Beckert wollte Fritz Lang einen Darsteller,
welchem der Wahnsinn schon ins Gesicht geschrieben stand. Lang wurde fündig, als
er 1929 eine Vorstellung von Bertolt Brechts "Pioniere in Ingolstadt" in
dessen epischem Theater besuchte. Dort sah er den jungen Schauspieler Peter
Lorre agieren und war zutiefst beeindruckt. Der Theaterkritiker Kurt Pinthus
schrieb am 2. April 1929 im Berliner 8-Uhr-Abendblatt über Lorres Schauspiel:
"Ein neues Gesicht war da, ein fürchterliches Gesicht: der hysterische
Kleinbürgerssohn, dessen glotzäugiger, schwammiger Kopf gelblich aus dem Anzug
quillt; wie dieser Bursche zwischen Phlegma und hysterischem Ausbruch taumelt,
wie er zage geht und greift und manchmal gierig zutapst, das werden auch Ältere
als ich kaum so unheimlich auf dem Theater erblickt haben. Dieser Mensch heißt
Peter Lorre. Wenn er auch andere Gestalten so deckend darstellen kann, ist hier
ein Schauspieler ersten Ranges." Fritz Lang muß es ähnlich empfunden haben,
denn Lorre wurde umgehend sein Wunschkandidat für die Rolle des Psychopathen.
Fritz Lang setzte alles daran, Peter Lorre von seinem Vorhaben zu überzeugen.
Gut, Fritz Lang war ja nicht irgendwer, sein Name verströmte in der deutschen
Filmwelt eine gottgleiche Aura. Peter Lorre wußte sehr wohl das Angebot zu
schätzen, aber er war dennoch skeptisch. Der gebürtige Ungar war nach
Deutschland gekommen und hatte dort eine intensive Liebesbeziehung zum Theater
begonnen und diese Liebe wollte er nicht aufs Spiel setzen. So ließ er sich von
Fritz Lang das Versprechen abringen, keine anderen Filmangebote anzunehmen, aber
dem Film gegenüber der Bühne den Vorrang zu geben, kam für Lorre nicht in Frage.
Und natürlich wusste auch Bertolt Brecht, welch eine Perle sich hier unter
seiner Darstellerriege befand und war nur allzu bereit, um Lorre zu kämpfen.
Brecht gab Lorre die Hauptrolle des Galy Gay in seiner Inszenierung von "Mann
ist Mann", eines Packers, welcher in die Fänge der britischen Kolonialarmee
Indiens gerät und sich zunehmend von einem Menschen in eine Kriegsmaschine
verwandelt. Peter Lorre wählte schließlich jenen Weg, den auch John Barrymore
während der Dreharbeiten zu "DR. JEKYLL AND MR. HYDE" (1920) gegangen war:
tagsüber drehte er mit Fritz Lang, abends stand er auf der Bühne.

Natürlich ist solch eine Doppelbelastung äußerst problematisch, bei John
Barrymore endete es mit einem Nervenzusammenbruch. Auch auf Peter Lorres Arbeit
hatte dies Auswirkungen und als es zu terminlichen Konflikten zwischen den
Dreharbeiten zu "M" (1931) und den Aufführungen von "Mann ist Mann" kam,
entschied sich Peter Lorre für Bertolt Brecht. Doch er hatte die Rechnung ohne
seinen neuen Chef gemacht. Lang war ein berühmter Regisseur, aber auch ein
gnadenloser. Ähnlich wie es später Stanley Kubrick tun sollte, peitschte Lang
seine Darsteller förmlich zu Höchstleistungen und bediente sich hierbei der
vollen Palette des Erzwingens von Leistungen, bis hin zu psychologischen Tricks
und offenem Sadismus. Peter Lorre wurde es zuviel und es kam zwischen ihm und
Lang zum offenen Streit. Der Streit eskalierte vollends, als Fritz Lang
gegenüber Lorre auf die Einhaltung des Vertrages pochte und drohte, ihn notfalls
auch über eine gerichtliche Anordnung ins Studio zu zwingen. Lorre blieb am Set,
allerdings ausgesprochen widerwillig - und weigerte sich den Rest seines Lebens
vehement, ein weiteres Mal mit Fritz Lang zu arbeiten, obwohl sie letztlich
Seelenverwandte waren, da sie beide vor den Nazis in die USA flüchteten, um
dort eine neue Karriere aufzubauen.

Fritz Langs Rücksichtslosigkeit gegenüber Lorres Interessen trug jedoch Früchte.
Peter Lorre war für "M" (1931) eminent wichtig und ohne Lorre wäre es ein
anderer und mit Sicherheit schlechterer Film geworden. Peter Lorre ist schon von
seinem Äußeren her außergewöhnlich - nicht häßlich, aber andersartig. Seine
etwas weinerliche Stimme half mit, "M" (1931) zu einem Klassiker des Thrillers
werden zu lassen. Und dies tat sie nicht nur wegen ihres Tonfalls, sondern auch
wegen Lorres Herkunft. Der Film wird von der Berliner Zunge dominiert und selbst
wenn man Peter Lorre nicht unmittelbar auf der Leinwand sieht, fällt sein
österreichischer Akzent unterschwellig auf und trägt diese Andersartigkeit auch
in den Tonfilm hinein - und den Ton effektiv und künstlerisch zu nutzen, war
eines der erklärten Ziele Fritz Langs. Und auch für Peter Lorre hat sich die
Qual gelohnt, denn sie eröffnete ihm letztlich eine zweite Karriere, die er,
ohne es zum Zeitpunkt der Dreharbeiten wirklich zu wissen, dringend nötig haben
würde. Die Theaterwelt, allen voran natürlich Brechts episches Theater, war
politisch links ausgerichtet. Es war die intellektuelle Opposition zum einfachen
Volk, welches zunehmend nach rechts driftete und letztlich Hitler zur Macht
verhelfen würde. Das linke Theater stand auf der Abschußliste der Nazis ziemlich
weit oben und somit auch Peter Lorre. Nach seiner Flucht in die USA hatte Lorre
durch "M" (1931) dort bereits einen Namen und der Einstieg in das Filmgeschäft
fiel ihm verhältnismäßig leicht. Er drehte dort bereits drei Jahre nach "M"
(1931) mit Alfred Hitchcock "The Man Who Knew Too Much" (1934) und weitere große
Erfolge folgten. Dazu gehörten die Hauptrolle in "MAD LOVE" (1935) unter der
Regie von Karl Freund, die Titelrollen in der erfolgreichen Serie um den
asiatischen Detektiven Mr. Moto mit insgesamt sieben Filmen, die zwischen 1937
und 1939 entstanden (im achten Film, "The Return of Mr. Moto" (1965), wurde
Lorres angestammte Rolle von Henry Silva übernommen), er wirkte in "The Maltese
Falcon" (1941), "Casablanca" (1942) und "20,000 Leagues under the Sea" (1954)
mit und blieb auch stets dem Horrorgenre verbunden, was natürlich zum Teil auch
in Lorres physischer Erscheinung begründet liegt. Wir werden Peter Lorre noch
oftmals begegnen, zum Beispiel in "ARSENIC AND OLD LACE" (1941) an der Seite
von Cary Grant, in einer weiteren Charakterrolle in "THE BEAST WITH FIVE
FINGERS" (1946) und in mehreren Filmen aus dem Dunstkreis von Roger Corman
wie "EDGAR ALLAN POE'S TALES OF TERROR" (1962) und "THE RAVEN" (1963) an der
Seite von Vincent Price. Peter Lorre blieb bis zu seinem zu frühen Tod im Jahr
1964 ein vielbeschäftigter Mann und ist der vielleicht bekannteste und
erfolgreichste Schauspieler, der den Sprung von Deutschland nach Hollywood
wagte. Dies alles verdankt dieser großartige Mime letzten Endes Fritz Lang.


Nach all dieser angedeuteten Großartigkeit der Voraussetzungen des Films werfen
wir nun einen Blick auf das Ergebnis. Fritz Lang und Bertolt Brecht haben bei
diesem Film geschichtliche Berührungspunkte, aber auch das Endergebnis braucht
einen Vergleich nicht zu scheuen. Auch "M" (1931) ist von enormer künstlischer
Qualität, ja sogar in literarischer Hinsicht braucht er sicht nicht zu
verstecken. Es ist leicht zu sagen, "M" (1931) sei der beste Film, welcher
jemals in Deutschland entstand, aber es ist für den normalen Kinogänger nicht
unbedingt erkenntlich, warum dies behauptet wird. Betrachtet man jedoch den Film
mit den analytischen Mitteln, welche bei der Literaturanalyse angewandt werden,
kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus. Um hierfür einen Eindruck zu
vermitteln, betrachten wir die ersten Minuten des Films en detail
und noch einige andere Szenen etwas oberflächlicher in Form von Hinweisen;
falls Sie, werter Leser, zufällig ein Deutschlehrer sein sollten, betrachten Sie
dies als Anregung zu einer erneuten Folter ihres Leistungskurses oder, falls Sie
noch ein Thema für eine wissenschaftliche Arbeit im Rahmen ihres Studiums der
Germanistik oder der Medienwissenschaften suchen, gebe ich Ihnen hiermit einen
heißen Tip für ein äußerst lohnenswertes Objekt.
Betrachten wir nun als Einstieg gemeinsam die Anatomie der Anfangsszene, welche
als Exposition des Filmes dient. Verzeihen Sie mir, daß ich hierbei die Aspekte
des subtilen Grauens etwas in den Vordergrund stelle; aber letztlich ist dies
das Thema dieses Buches und "M" (1931) zehrt unmittelbar von dieser Eigenschaft.
Und falls Sie den Film anders empfinden sollten, seien Sie getröstet; ich liefere
Ihnen an dieser Stelle auch Szenenfotos zu jeder Einstellung mit und gehe
natürlich auch auf die für den Horrorliebhaber eher unwesentlichen Details ein.


Der Film beginnt mit völliger Lautlosigkeit. Das phallisch anmutende
Firmenemblem der Nero Film erscheint.

Es folgt der Titel des Films, eingebettet in eine expressionistische Zeichnung.
Wir sehen die stilisierte Hand, in deren Handfläche der Buchstabe "M"
geschrieben steht. Dieses Motiv ist weitgehend identisch mit dem Filmplakat.
Auch hier ist noch kein Ton zu hören, wir befinden uns gerade in einem
Stummfilm.

Als nächste Titelkarte erscheint der Schriftzug "Ein Fritz Lang Film" in
quadratischer Anordnung. Mehr verrät der Film nicht über seine Mitwirkenden;
keine Nennung von Schauspielern, keine Autoren, nichts - nur "Ein Fritz Lang
Film". Dies ist keine lapidare Nennung eines Namens, sondern wird wie ein
Qualitätssiegel dargestellt. "Hey, ich bin ein Film von Fritz Lang, sonst noch
Fragen?", scheint der Film von der Leinwand zu rufen. Alles andere ist irrelevant,
das Wesentliche hat der Film hierdurch mitgeteilt.
Noch während wir auf diesen Schritzug starren, dröhnt eine Kirchenglocke durch
den Zuschauerraum. Der laute Gong zerreißt die bisherige Stille wie ein
bedrohlicher Weckruf, der Schriftzug auf der Leinwand erlischt und der
Zuschauer sitzt im Dunkeln.
Dieser erste Ton des Film läutet einen der wesentlichen Aspekte des Films ein,
nämlich die bereits angesprochene Betonung des Flusses der Zeit. Aber seine
Funktion ist auch von emotionaler Art. Der Ton durchbricht die Stille agressiv
und weckt die Emotion kurzen Erschreckens, der Klang des Tons verwandelt dies
in unterschwellige Angst. Dieser Ton bereit die Basis für die nun folgenden
Einstellungen, welche die Angst intonieren, die Todesangst der Mütter um ihre
Kinder, ihre Hilflosigkeit gegenüber der in der Stadt lauernden ungreifbaren
Gefahr.

Die Schwärze der Leinwand wird durchbrochen durch den Gesang von Kindern. Sie
singen eine Variation des in den 20er Jahren beliebten Abzählreims über Fritz
Haarmann:

Warte, warte nur ein Weilchen,
Bald kommt der schwarze Mann zu Dir,
Mit dem kleinen Hackebeilchen,
Macht er Schabefleisch aus Dir - Du bist raus!

Das während des Films langsam eingeblendete Bild zeigt die Kinder, welche den
Reim aufsagen. Beachten Sie auch hier wieder, wie Fritz Lang das Motiv der Zeit
in diese Szene einbaute. Die Kinder stehen in einem Kreis, wie die Ziffern einer
Uhr angeordnet. Im Mittelpunkt des virtuellen Ziffernblattes steht das sprechende
Mädchen. Es dreht sich während des Abzählens rhythmisch im Uhrzeigersinn. Sein
erhobener linker Arm stellt hierbei den Zeiger der Uhr dar.
Die Kinder stehen auf einem Steinboden und nicht etwa auf einem Spielplatz. Dies
ist natürlich Absicht, denn ein Steinboden wirkt bedrückender und härter als
Rasen oder Sand. Er repräsentiert hier die für Kinder ungeeignete Umwelt und die
Bedrohung, welcher sie ausgesetzt sind. Diese Bedrohung hat der Film noch nicht
gezeigt, aber er spricht davon. Der Haarmann-Reim ist hier unmißverständlich.
Die Kinder leben keineswegs in einer idyllischen und kindgerechten Welt, was
Fritz Lang mit nur einer einzigen Einstellung deutlich macht.

Der Haarmann-Reim teilt uns mit, daß ein Mörder in der Stadt unterwegs ist. Die
Ansicht der spielenden Kinder präzisiert dies noch genauer. ein Einzelnes Kind
unterliegt durch das Abzählen einer Zufälligkeit und man weiß nicht, welches
es als nächstes trifft. Ebenso sucht der Mörder seine Opfer, stets Kinder,
zufällig aus. Einige Kinder wurden bereits ausgezählt, sie stehen neben der
Gruppe im Abseits. Dies macht deutlich, daß die Mordserie nicht an ihrem Anfang
steht, sondern bereits einige Zeit durch die Stadt tobt. Um dies zu betonen,
beginnt eine Kamerafahrt über zwei bewegungslos an der Seite stehende Kinder
hinweg.

Die Kamerafahrt führt die hinter den Kindern befindlich Hauswand hinauf. Jetzt
wird erkenntlich, daß die Kinder in einem Hinterhof typischer Großstadtgebäude
spielen. Die mehrstöckigen Gebäude suggerieren Sicherheit. Die Kinder sind durch
sie von dem Treiben auf der Straße der Stadt abgeschirmt und geschützt; so
wie Gefängnisinsassen nicht über die Mauer hinweg flüchten können, kann das Böse
in diesem Fall nicht in die Welt der Kinder eindringen. Jedenfalls in der
Theorie, denn in der Praxis sieht das anders aus. Während die Kamera hinauf in
die Höhe der ersten Etage gleitet, singen die Kinder den Haarmann-Reim erneut.
Die Häuserschlucht bietet hier keinen Schutz, der Mörder streckt dennoch seine
Hand nach ihnen aus.
Auf dem Balkon hängt eine Frau Wäsche ab und legt sie in einen Korb. Sie hat
Angst um die Kinder und das Aufsagen des Reimes beunruhigt sie sehr. Sie kann
es nicht ertragen, daß der Mörder Einzug in die vermeintlich abgeschottete Welt
des Hinterhofes hält. Daher läuft sie zu dem Geländer des Balkons und ruft
hinab, "Ihr sollt det verfluchte Lied nich singen, hab ick euch jesaht. Könnt
ihr nich hörn!".
Doch, die Kinder hören sie, aber es ist nutzlos. Stellvertretend für alle Eltern
ist sie von den Kindern getrennt, sie sind für sie unerreichbar. Sie kann die
Kinder zwar hören und umgekehrt, aber das Geländer fungiert in diesem Film als
Barriere zwischen ihnen.
Ihr Versuch, den Mörder aus dem Hinterhof draußen zu halten, mißlingt. Die
Kinder sind zwar zunächst ruhig. Doch als die Frau den Balkon verläßt und die
Kinder somit wieder aus ihrer Reichweite sind, läßt Fritz Lang die Kamera
weiterlaufen, bis anstelle des erhofften Schnittes die Kinder den Reim erneut
anstimmen. Die Erwachsenen sind der Bedrohung des Mörders gegenüber
offensichtlich nicht nur angsterfüllt, sondern vor allem hilflos.

Die Frau trägt den Korb mit frischer Wäsche mühsam die Treppe hinauf zur Wohnung
der Beckmanns. Frau Beckmann öffnet die Tür und die Frau, von welcher wir nicht
wissen, ob sie ebenfalls eine Mutter oder nur eine bedienstete Waschfrau ist,
setzt Frau Beckmann über das Treiben im Hinterhof in Kenntnis: "Fuffzich mal
kannste den Jörn verbieten, det verdammte Mörderlied zu singen. Den janzen Tach
brülln se dir in de Ohrn. Als ob man nich jenuch von den Mörder zu hörn
kriechte."
"Solang man se singen hört, weiß ma wenigstens, daß se noch da sind.",
antwortet Frau Beckmann.
Frau Beckmann fasst hier ihre Hilflosigkeit in einem Satz zu sammen. Während der
Versuch der anderen Frau, aktiv in das Geschehen einzugreifen, zwar völlig
fehlschlug, aber wenigstens noch ein Kampf gegen das drohende Unheil stattfand,
ergibt sich die Mutter Beckmann in völliger Passivität. Sie weiß, daß die Kinder
noch da sind - aber weiß sie auch, ob die Kinder in einer Minute noch da sein
werden?

Fritz Lang zeigt nun eine an der Wand hängende Kuckucksuhr. Es ist zwölf
Uhr, Mittagszeit.
Erneut bringt Lang hier das Zeitmotiv ins Spiel und nutzt dies auch als
verbindendes Element zur nächsten Einstellung. Die Kuckucksuhr verkündet noch
akustisch die Zeit, als Fritz Lang die Straße vor der Gemeindeschule zeigt.
Der visuelle Schnitt wird akustisch verdeckt, indem der durch den
Kulissenwechsel abrupt gestoppte Ton der Kuckucksuhr nahtlos durch das Läuten
einer Kirchturmglocke weitergeführt wird. Ein derartiger Tonschnitt war im Jahr
1931 noch nicht üblich, aber das gilt für so ziemlich alles, was im Laufe des
Films aus den Lautsprechern erschallt.
Wir sehen nun das Eingangstor der Gemeindeschule. Die Kamera befindet sich in
erhöhter Position auf der anderen Straßenseite. Einige Autos fahren vorbei,
aber der eigentliche Bildinhalt sind die Eltern, welche bewegungslos vor der
Tür auf ihre Kinder warten. Oder besser gesagt: Sie warten darauf, daß sie ihnen
wieder übergeben werden. Diese Einstellung ist die erste, welche die
kollektive Angst und Hysterie des Falles Peter Kürten andeutet.

Ein Kind wird jedoch nicht abgeholt. Frau Beckmann steht nicht vor den Toren der
Schule, sondern in der Küche. Dort kocht sie das Mittagessen ihrer Tochter
Elsie. Fritz Lang greift mit diesem Zwischenschnitt der Geschichte voraus; wir
wissen nun, daß sich Elsie in Gefahr befindet.

Die kleine Elsie Beckmann läuft den Bürgersteig entlang, die Kamera folgt ihr.
Sie möchte die Straße überqueren, doch hierbei wird sie beinahe von einem Auto
angefahren. Ein Polizist eilt zur Stelle, hält den Verkehr an und geleitet Elsie
über die Straße.
Doch er bringt sie nicht in Sicherheit, wie er und auch de Zuschauer denken
mögen. Vielmehr führt er Elsie auf den Weg in die Fänge ihres Mörders.

Erneuter Zwischenschnitt: Zuhause deckt Mutter Beckmann bereits den Tisch. Elsie
kann nicht mehr weit von daheim entfernt sein.
Elsie läuft die Straße entlang. Sie führt einen Ball mit sich, welchen sie beim
Gehen auf den Boden wirft und in ihre Hand zurückspringen läßt.
Interessant ist hier die Kamerafahrt; diese fährt parallel zu Elsie die Straße
entlang, so daß Elsie im Zentrum des Bildes bleibt. Sie bewirkt, daß die
Einstellung einen Hauch von Elsies Unbeschwertheit ins Publikum transportiert.
Elsie und der springende Ball bestimmen für einige Sekunden die Gefühle des
Zuschauers. Auch der Ton ist hier prägnant. Man hört nur das Geräusch des auf
den Boden aufschlagenden Balles, prägnant, rhythmisch.

Die Kamerafahrt endet an einer Litfaßsäule. Elsie bleibt davor stehen und wirft
immer wieder den Ball auf eine dort angebrachte Reklame, der Ball springt ab,
Elsie fängt ihn wieder. Weiterhin dominiert der Aufprall des Balls die
ansonsten sehr sparsame Geräuschkulisse, als die Kamera sich stetig der
Litfaßsäule nähert und wir erkennen können, worum es sich bei der vermeintlichen
Reklame in Wirklichkeit handelt: um ein Fahndungsplakant des Kindermörders.
Spätestens jetzt ist klar: Die bislang unausgesprochene Angst der Mütter um ihre
Kinder und ihr Entsetzen beim Hören des Haarmann-Reims ist nur zu gut begründet.
Elsies Ball scheint nun sowohl visuell als auch akustisch das Schicksal in hohem
Maße herauszufordern. Die Fahndungsmeldung beherrscht lange Sekunden die
Leinwand, lange genug, um sie in ihrer Gänze lesen zu können. Während dieser
Zeit kommt der Ball wiederholt ins Bild geflogen, schlägt klatschend an das
Plakat und springt wieder aus dem Bild hinaus. Elsie scheint hiermit ihr
Schicksal unbeabsichtigt zu besiegeln. Das Plakat ist die Schnittstelle zwischen
Elsies heiler Kinderwelt und der Welt des Kindermörders. Und was macht Elsie?
Sie wirft den Ball an dieses Tor zum Grauen, sie spielt gewissermaßen mit dem
Mörder. Und schlimmer noch: Sie klopft an seine Tür.

Wie er gerufen wurde, so ist er schon da. Der Schatten eines Mannes fällt auf
das Plakat. Sein Kopf verdeckt das Wort "Mörder".
Der Mörder hat seinen ersten Auftritt als Schatten, als ein Phantom, ein
körperloses Wesen mit einer körperlosen Stimme, die Elsie anspricht: "Du hast
aber einen schönen Ball. Wie heißt du denn?"
"Elsie Beckmann!" quietscht das kleine Mädchen vergnügt als Antwort.

Für Mutter Beckmann ist die Welt noch in Ordnung. Sie stellt das Essen auf den
Tisch. Dies ist eine subtil-beunhruhigende Überblendung Langs. Frau Beckmann
steht gebeugt, im gleichen Winkel wie der Schatten des Mörders, und schält mit
einem Messer eine Kartoffel. Die Analogie ist überdeutlich, wenngleich auch
unauffällig in Szene gesetzt.
Wieder zeigt Fritz Lang die Kuckucksuhr, jetzt ist es 12:20 Uhr. Elsie muß jeden
Augenblick nach Hause kommen.
Frau Beckmann hört einige Kinder das Treppenhaus emporstürmen. Voll freudiger
Erwartung öffnet sie die Tür, doch Elsie ist nicht darunter.
Jetzt beginnt Frau Beckmann, sich Sorgen zu machen. Zuerst schaut sie den Kindern
hinterher und wirft dann einen ersten Blick das Treppenhaus hinunter.

Nun schneidet Lang zurück auf die Straße. Wir sehen aus einer göttlichen
Perspektive, wie der Fremde einen Luftballon für Elsie kauft. Der Luftballon
hat eine kindliche Gestalt: rundlicher Körper, übergroßer Kopf mit aufgemalten
Gesichtszügen. Verkauft wird er von einem blinden Bettler, der späterhin noch
eine gewichtige Rolle in dem Film haben wird.
Der Ton des Films drückt dieser Einstellung seinen Stempel auf, denn der Mörder
pfeift ein Lied. Es handelt sich um das Leitmotiv aus Edvard Griegs "Peer Gynt,
Suite No. 1, Opus 46-4, In der Halle des Bergkönigs". Diese bekannte Melodie
ist nicht nur einprägsam, sondern auch eine zeitgenössische Anleihe, welche den
Bezug des Films zur Realität Berlins im Jahre 1930 mitträgt, denn 1929 gab es
eine beliebte und gefeierte Aufführung des Stückes in der Hauptstadt. Jene
Passage aus "Peer Gynt" erzählt davon, wie Peer Gynt die Halle des Bergkönigs
durchkreuzt, bedroht von Trollen und anderen Kreaturen. Der Mörder Beckert sieht
sich in einer ähnlichen Situation, wie im weiteren Verlauf des Films wiederholt
angedeutet wird. Immer dann, wenn das Monstrum in ihm erwacht, setzt die Melodie
ein. Manchmal, wie in dieser Szene, pfeift er die Melodie selbst. Manchmal
jedoch entsteht sie auch in seinem Kopf, scheint von überall über ihn
hereinzubrechen und ihn schier in den Wahnsinn zu treiben, wie zum Beispiel in
einer Szene in einem Straßencafé, einem jener Art, wie auch Peter Kürten sie oft
besuchte, um dort den Schauergeschichten über die von ihm begangenen Morde zu
lauschen. Langs Einsatz von "Peer Gynt", der übrigens immer von Lang selbst
gepfiffen wurde, weil Peter Lorre nicht pfeifen konnte, drückt Langs erstem
Tonfilm den Stempel auf. Die Musik ist so markant und einprägsam wie das Thema
aus Carol Reeds "The Third Man" (1949) oder Mikis Theodorakis' Spiel aus "Alexis
Zorbas" (1964), allerdings mit einem bedrohlichen Unterton. "Peer Gynt" brennt
sich als das Lied eines Mörders in das Gedächtnis ein.

Erneut folgt ein unvermittelter Schnitt zurück in die Küche der Beckmanns. Es
klingelt an der Tür und Frau Beckmann öffnet sie in der Erwartung, daß Elsie
vor der Tür steht. Doch es ist nur Herr Gehrke, der Zusteller der von ihr so
geliebten Kriminal-Groschenromane.
Durch diesen Schnitt läßt Lang den Gedanken entstehen, daß just in dem Moment,
in welchem Frau Beckmann die neueste Folge ihrer Krimiserie entgegennimmt, Elsie
von Beckert ermordet wird.
Daß Frau Beckmann hier ausgerechnet eine Kriminalgeschichte erhält und nicht
eine Ausgabe einer üblichen "Klatsch und Tratsch"-Zeitschrift, kommt nicht von
ungefähr. Das Verhältnis von fiktivem und realem Verbrechen ist hier eine
interessante Konstellation. Das fiktive Verbrechen dient Frau Beckmann, wie
jedem anderen Menschen auch, als angenehmes Mittel der Unterhaltung. Daß man das
reale Verbrechen als grauenvoll empfindet, spielt bei diesem Genuß keine Rolle.
Horrorliteratur und -filme bilden hierbei auch keine Ausnahme. Das
Bewußtsein, daß es zwischen den geschilderten Vorgängen und der eigenen Realität
eine Distanz gibt, schafft hier ein ausreichendes Polster, auch wenn es kaum ein
Gewaltverbrechen gibt, welches noch nicht durch die Literatur behandelt wurde.
"M" (1931) ist hier keine Ausnahme, und Lang war sich dessen offensichtlich
bewußt. Die Neuigkeiten von den Düsseldorfer Morden und Peter Kürtens
Enthüllungen fütterten solche Magazine und diese fanden einen reißenden Absatz.
Ein besonders auffälliges Beispiel ist hier die Ausgabe der Tageszeitung
"Berliner Morgenpost" vom 25. November 1929. In dieser Zeit gab es eine Kolumne
mit der Überschrift "Der Kriminalist" und in der genannten Ausgabe brachte die
Zeitung unter dem Titel "Krieg in Düsseldorf" eine ausführliche Beschreibung
der bisherigen Düsseldorfer Bluttaten. Direkt daneben, noch auf der gleichen
Seite, befand sich der Abdruck einer Kriminalgeschichte von Frank Heller.
Nichts anderes macht letztlich auch Fritz Lang mit "M" (1931). Was immer Lang
in seinem Film auch zeigen mag, es wird stets als Fiktion vom Publikum
aufgenommen werden. Daher erscheint es also umso logischer, daß Lang sich
bemühte, seinen Film in eine möglichst reale Szenerie einzubetten, um so die
Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit als diffus erscheinen zu lassen.

Nachdem Herr Gehrke sagte, daß er Elsie nicht gesehen habe und sie sicher noch
kommen würde, beginnt sich in Frau Beckmann die nackte Angst zu regen. Sie eilt
wieder ins Treppenhaus und wirft einen Blick hinunter. Doch das Treppenhaus ist
immer noch leer.
Diese Einstellung ist ein echter Klassiker. Wagner fotographierte das
Treppenhaus aus einem sehr steilen Winkel nahezu senkrecht hinunter, insgesamt
vier Stockwerke. Das Bild von der harten, gnadenlos anmutenden Geometrie harter
Kanten dominiert. Auch diese Einstellung wurde oft kopiert, unter anderem von
Alfred Hitchcock in "VERTIGO" (1958), wobei sie Hitch sie noch zusätzlich um
seinen berühmten Zoom-Effekt anreicherte.

Mit von der Angst gezeichnetem Gesicht kehrt Frau Beckmann in die Wohnung
zurück.
Dort verharrt sie kurz, dann wirft sie erneut einen Blick auf die Uhr. Es ist
mittlerweile 13:15 Uhr, Elsies Heimkehr ist bereits eine Stunde überfällig.

Nun schlägt Frau Beckmanns Angst in Panik um. Sie eilt zum Küchenfenster und
ruft Elsies Namen zur Straße hinunter. Ihr zweiter Schrei verhallt ungehört im
Treppenhaus. Der dritte Schrei im Speicher.
Hier haben wir ein weiteres Beispiel für Langs grandiosem Umgang mit Ton. Wir
denken, Frau Beckmanns Rufe würden durch das Gebäude schallen, aber dem ist
nicht so. Es handelt sich hierbei um ein klassisches Voice-Over in Szenen, die
stumm gedreht wurden. Die Wucht dieser Szene ergibt sich aus ihrem Kontext.
Das leere Treppenhaus, der leere Speicher - egal wo Frau Beckmann sucht, sie
wird ihre kleine Elsie nicht mehr finden.
Der Höhepunkt dieser Einstellung ist erreicht, als Fritz Lang einen langen Blick
auf Elsies unberührtes Essgeschirr und den Stuhl, auf welchem Elsie jetzt
eigentlich sitzen sollte, aber nie mehr sitzen wird, zeigt. In dieser
Einstellung ruft Frau Beckmann nicht mehr den Namen ihrer Tochter, sondern es
herrscht eisige Stille, Grabesstille.

Die Stille hält an, als wir sehen, wie Elsies Ball aus einem Gebüsch
hervorrollt. Elsie stirbt gerade.

Zuletzt zeigt uns Fritz Lang den Luftballon, der nicht mehr von Elsies kleinen
Händen festgehalten wird. Er steigt als Sinnbild für Elsie Beckmanns Seele hinauf
zu einer Telegraphenleitung. Dort verfängt er sich kurz, als ob er sich nicht
endgültig von dieser Welt verabschieden wollte. Doch dann driftet er doch noch
in den Himmel hinauf. Elsie ist von uns gegangen.


Dies waren die ersten vier Minuten von "M" (1931) - die ersten vier Minuten von
insgesamt 106. Der Film hält dieses Niveau bis zum Schluß und nun können Sie
sich vorstellen, weshalb ich schrieb, eine umfassende Betrachtung würde ein
eigenes Buch füllen. An dieser Stelle treten wir daher auf die Bremse, zumal
sich im weiteren Verlauf des Films der Horror auf reine Theorie reduziert. Die
Horrormotive in der Exposition sind, wenngleich auch subtil eingesetzt,
unübersehbar, doch der Rest des Filmes konzentriert sich darauf, ein typischer
Kriminalfilm zu sein, in welchem ein Mörder gejagt wird. Ich habe jedoch
versprochen, noch auf einige Besonderheiten des Films einzugehen.

Die Sicht des Films auf die Stadt Berlin haben wir bereits genügend erwähnt.
In der Betrachtung der ersten Filmminuten fiel jedoch auf, daß Fritz Lang die
Stadt selbst nicht zur Hauptperson kürt, und das wird sich in den restlichen
102 Minuten Filmdauer auch nicht ändern. Fritz Lang zeigt keine städtischen
Merkmale Berlins. Er zelebriert die Stadt nicht, er zeigt lediglich das Leben
darin. Berlin ist hier auch ein Stellvertreter für andere deutsche Großstädte.
Dies hatte unter anderem auch zur Folge, daß in der Vergangenheit einige
Rezensenten unter dem Eindruck der Kürten-Hysterie davon ausgingen, daß "M"
(1931) in Düsseldorf spiele. Dies ist jedoch ein Trugschluß, denn Berlin bleibt
nicht anonym. Als erstes Indiz wäre hier die Sprache zu nennen; die
Protagonisten sprechen mit Ausnahme Hans Beckerts alle eine Berliner Zunge. Auf
einem Zeitungsartikel ist der Name der Stadt zu erkennen. Im Film wird die Stadt
als die Heimat von viereinhalb Millionen Menschen bezeichnet; nur Berlin hatte
im Jahr 1930 diese Größe. Und ein Stadtplan läßt endgültig keinen Zweifel am
Ort des Geschehens, denn auf diesem ist Berlin eindeutig identifizierbar.
Die Anonymisierung der Großstadt kommt daher, daß die Stadt nicht gefilmt wurde.
Der Film entstand vollständig im Studio, dementsprechend sehen wir nur
Studiobauten anstelle echter Gebäude.
Ein kleiner Hinweis am Rande für die Filmhistoriker unter Ihnen: Einer der
Bühnendesigner war ein junger Mann, der ebenfalls in die USA auswandern und dort
in Hollywood als Regisseur von B-Movies zu einer Kultfigur heranwachsen würde:
Edgar G. Ulmer. Er wird uns noch wiederholt begegnen, denn er drehte Filme wie
"BLUEBEARD" (1944), "THE MAN FROM PLANET X" (1951), "DAUGHTER OF DR. JEKYLL"
(1957) und "THE AMAZING TRANSPARENT MAN" (1960), also vorrangig echte
Trashgranaten, wie die Filmtitel bereits andeuten.

Wesentlich unverständlicher als das Portrait einer Großstadt dürfte für Sie
meine Behauptung sein, bei "M" (1931) handele es sich auch um einen
Kriegsfilm. Es ist in der Tat so; der Horror verschwindet zunehmend, der Krieg
hält zunehmend in den Film Einzug. Diesen interessanten Aspekt schauen wir uns
nochmal genauer an, denn dies ist notwendig, um "M" (1931) wirklich zu würdigen
und nebenbei auch hochinteressant.
Als der erste Weltkrieg ausbrach, herrschte eine große Begeisterung im Volk für
den Krieg, welcher der Propaganda zufolge nur wenige Wochen oder Monate dauern
sollte. Die Menschen waren hungrig nach Neuigkeiten von der Front und ihre
hauptsächlichen Informationsquellen waren Tageszeitungen und Litfaßsäulen. An
letzteren wurden die Neuigkeiten als Plakate angeschlagen und vor ihnen bildeten
sich regelmäßig Menschentrauben. Fritz Lang zitiert dies kurz nach dem Ende der
Exposition. An einer Plakatwand ist eine Kopie des Fahndungsplakats angebracht,
Fritz Lang zeigt es in einer Nahaufnahme. Dann zieht sich die Kamera zurück,
zeigt zuerst einige Hüte, dann Menschen. Die Kamera entfernt sich immer weiter
von dem Plakat, aber die Menge bleibt unüberschaubar groß.
Eine nervig hohe Stimme aus dem Off liest vor, daß der Schrecken in der Stadt
ein neues Opfer heimgesucht habe. Hierbei kann es sich nur um Elsie Beckmann
handeln. Die Männer vor dem Plakat sind als Stummfilm inszeniert, die körperlose
Stimme ist das einzige, was man hört.

Die Stimme aus dem Off gehört einem dicklichen Exemplar der Bourgeoisie, wie wir
nach dem folgenden Schnitt sehen. Dieses sitzt mit seinen Kumpanen in einer
Stammtischrunde und fachsimpelt munter. Dies ist eine Anleihe Fritz Langs an den
wohl schärfsten Kritiker der kriegstreibenden Oberschicht und der rechten Szene
Deutschlands, George Grosz. Grosz warf ein wachsames Auge auf die Weimarer
Republik und machte sich mit seinen bitterbösen Karikaturen in den 20er Jahren
einen Namen. Er erkannte so manche Unstimmigkeit und neben den Nazis war die
fette Bourgeoisie, welche mal eben nebenher die Menschen des einfachen Volkes
für ihre Kriegsspiele verheizt, das Lieblingsthema von Grosz. Nach Hitlers
Machtergreifung im Jahr 1933 verließ er Deutschland und zog nach New York,
wohlwissend, welches Schicksal ihn unter Hitlers Herrschaft erwartet hätte.
Seine Arbeiten wurden im Jahr 1937 von den Nazis als "entartete Kunst"
eingestuft und somit verboten.
Fritz Lang verehrte Grosz und er ließ es sich nicht nehmen, dessen Karikaturen
als Vorlage für diese Tischrunde zu benutzen. Der sprechende und Zigarren
qualmende Bonze hinten links scheint einer von Grosz' vielen Kriegskarikaturen
entsprungen zu sein und wie auch bei Grosz bekommen sich die Stammtischbrüder
in die Wolle, indem sie sich in ihrem Übereifer gegenseitig beschuldigen, der
Mörder zu sein (bei Grosz waren es seinerseits "Hochverräter"). Über dem Tisch
thront, wie eine alles überwachende Spinne, ein Kronleuchter. Er spendet das
Licht, ohne welches die Diskussion gar nicht möglich wäre, kontrolliert aber
ebenso das Geschehen wie das sich bei Grosz des öfteren wiederholende Bild eines
Geldsäckels, die Haupttriebfeder hinter dem Kriege.

Langs Kritik in Form der Anspielungen auf Grosz sind schwer zu entdecken. Fritz
Lang hütete sich davor, in seinem Film offene Kritik zu üben. Andere Anleihen an
den Krieg sind offensichtlicher, aber hier stellt Fritz Lang nur dar, er
kritisiert nicht. Die auffälligsten Referenzen an den Krieg seien hier erwähnt,
die Suche nach weiteren überlasse ich dem interessierten Leser und Betrachter.

Die Polizei plant, das Gebiet um die Tatorte systematisch zu durchkämmen. Jeder
Stein soll umgedreht, jeder Vorgarten durchkämmt und jede Wohnung durchsucht
werden, damit man endlich Hinweise auf den Mörder entdeckt. Der Film zeigt hier
eine generalstabsmäßige Planung. Die Ziele werde auf einem Stadtplan festgelegt
wie die Ziele eines Angriffs aus der Luft.
Schränker hingegen wählt einen anderen Ansatz. Er will die totale Kontrolle
durch Infiltration. Als Kriegsgegner der Polizei benutzt er ebenfalls einen
Stadtplan, um seine Soldaten und Agenten, die Bettler, flächendeckend geschickt
zu positionieren. Seine auf dem Stadtplan liegende Hand ballt sich zu einer
Faust; im Gegensatz zu den chirurgisch anmutenden Angriffen seiner Kontrahenten
möchte er die komplette Stadt in seinen Würgegriff bringen - er möchte sie
besetzen.

Schränkers Armee besteht aus den Verlierern des ersten Weltkrieges. Bettler
waren in der Tat ein fester Bestandteil von Berlins Stadtbild und die meisten
von ihnen wurden im ersten Weltkrieg zu Krüppeln geschossen. Deutschlands
Großstädte litten damals unter einem Trauma, welches sich mit jenem der
Amerikaner nach der Niederlage in Vietnam vergleichen läßt und dieses Trauma
macht Fritz Lang zu einem essentiellen Bestandteil seines Films. Die Bettler
werden nicht nur gezeigt, sondern wie von einer Meldestelle des Heeres
rekrutiert. Die Kriegskrüppel schreiben sich für einen neuen Einsatz an der
Front ein.
Die Polizei hingegen zeigt das saubere Antlitz des Krieges. Hier gibt es keine
gemeinen Soldaten, welche im Dreck leiden; Lohmanns Armee ist uniformiert und
sauber, marschiert im formierten Gleichschritt zu den durch ihren General
angeordneten Razzien. Sogar der Minister kontaktiert seinen untergebenen
Polizeichef und zwingt diesen zu einem Großeinsatz; die Suche nach dem Mörder
wird durch ihn auf einer politischen Ebene ausgetragen.
Auch ein interessantes Detail ist eine der Szenen, in welcher Beckert mit einem
seiner potentiellen Opfer eine Straße entlangmarschiert. Sie kommen an mehreren
Plakaten vorbei, auf welchen G.W. Pabsts meisterliches und von den Nazis später
verbotenes Meisterwerk "Westfront 1918" (1930) beworben wird. Diese kleine
Anspielung ist ein Detail von großartiger Brillanz. "Westfront 1918" (1930) ist
ein Antikriegsfilm, welcher den Vergleich mit dem amerikanischen "Im Westen
nichts Neues" (1930) nicht zu scheuen braucht. Dieses Plakat ist hier auch eine
Stellungnahme Langs zum Krieg selbst. Des weiteren lief der Film kurz vor
Drehbeginn zu "M" (1931) sehr erfolgreich in Berlin; das Plakat ist somit auch
ein Beitrag zur Aktualität des Filmes. Drittens ist diese Szene auch noch
geschickt plazierte Werbung, denn wie "M" (1931) war auch "Westfront 1918"
(1930) eine Produktion der Nero Film.

Motive des Kriegsfilm wie die hier genannten sind Bestandteil des Films, aber
sie dominieren ihn nicht. Man kann sich den Film anschauen, von ihm unterhalten
werden, und dennoch nimmt man sie gar nicht wahr, ähnlich wie auch einige
Details aus der Eröffnungssequenz des Films, welche wir genauer betrachteten.
Gleiches gilt für eine Vielzahl anderer Momente des Films, aber zwei davon sind
so offensichtlich, wenngleich auch nicht auf Anhieb für jedermann
nachvollziehbar, daß sie hier unbedingt noch Erwähnung finden müssen. Beide
Szene sind auch ein weiteres Beispiel für den leichten Unterton des Horrors, der
in diesem Film herrscht.

Die erste dieser eindrucksvollen Szenen zeigt Beckert als Gefangenen seiner
selbst. Beckert begibt sich zu einem Straßencafé. Die beiden auf der Straße
stehenden Tische sind durch eine Hecke vom Bürgersteig abgetrennt. Wir sehen
Beckert, wie er durch die Hecke hindurch zu einem der Tische geht und sich auf
einem der Stühle niederläßt.
Nun beginnt eine Kamerafahrt über die Straße hinweg ganz nah an die Hecke
heran. Der Zuschauer schaut durch sie hindurch den Mörder an. Die Zweige der
Pflanze wirken hierbei wie Gitterstäbe.
Anfangs ist Beckert noch einigermaßen normal. Er beginnt, sein "Peer Gynt"
zu pfeifen, doch er bricht schnell wieder ab. Er greift in seine Tasche und
holt eine Zigarette hervor, führt sie zu seinem Mund.
Doch dann erwachen wieder die bösen Geister in ihm. Er beugt sich kurz mit
gequältem Geischtsausdruck nach vorne über den Tisch, seine Augen treten leicht
hervor. Noch immer sehen wir ihm durch die Hecke zu, wie Voyeure.
Beckert fängt sich schnell wieder. Er steckt sich die Zigarette wieder in den
Mund und möchte sie anzünden.
Doch nun übermannt ihn das Grauen. Er wirft die Zigarette weg und verhüllt in
Panik sein Gesicht mit seinem Mantel. Agressiv ertönt das Pfeifen der "Peer
Gynt"-Suite. Doch die Melodie kommt diesmal aus dem Off; Beckert pfeift sie
nicht selbst, sondern die Melodie erschallt in seinem Kopf, quält ihn, will das
Monstrum zum Erscheinen zwingen.
Fritz Lang etabliert in dieser Szene den Ton des Films als nicht zu übersehendes
Stilmittel. Die kurze Melodie wird zu einem Vorboten des Unheils und ist nicht
mehr länger nur das Liedchen, welches von einem durchgeknallten Mörder gepfiffen
wird. Im späteren Verlauf des Films kommt noch eine Szene, in welcher der blinde
Luftballonverkäufer das Pfeifen hört. Er wird vom Grauen gepackt, denn er
erkennt anhand dieses Liedes, und notgedrungen nur an ihm, den Mörder. Der
Mörder entfernt weit sich von dem Blinden, bis auch der zur Hilfe gerufene
Sehende Beckert fast aus den Augen verliert - aber das Pfeifen als Ausdruck des
Grauens wird einfach nicht leiser.

Auch in der zweiten Szene erwacht das Monster in Beckert, dieses Mal wehrt sich
Beckert jedoch nicht dagegen. Beckert geht hier einer seiner
Lieblingsbeschäftigungen nach, dem Betrachten von Schaufenstern. Er landet vor
dem Schaufenster einer Eisenwarenhandlung und betrachtet sich die darin
ausgestellten Waren.
Fritz Lang wählte hier nun plötzlich eine Kameraposition im Inneren des
Geschäftes. Wir sehen Beckert durch die Glasscheibe, zusammen mit einer
Reflektion in der Auslage befindlicher Messer. Die Messer formen eine Raute um
Beckerts Kopf, ihre Klingen sind auf sein Gesicht gerichtet. Es scheint, als
würden sie Beckert bedrohen, ein Symbol für die Bedrohung des braven Beckert
durch sein mordendes Ego.
Dann wechselt Lang die Kameraposition und zeigt die Auslage aus Beckerts
subjektiver Sicht. Wir schauen nun direkt auf die Raute aus Messern. Doch dieses
Mal sehen wir nicht Beckerts Spiegelbild in der Glasscheibe, sondern jenes eines
kleinen Mädchens. Der Mörder ist erwacht, Beckert wird das Mädchen nun
verfolgen.


Fritz Lang erreichte mit "M" (1931) sein Ziel, einen Tonfilm zu schaffen, welcher
dem Anspruch von Stummfilmen gerecht wird. Inszeniert nach den visuellen
Maßstäben des Stummfilms und einer unbeschreiblichen tour de force beim Umgang
mit dem Ton, war "M" (1931) seiner Zeit weit voraus und legte die Meßlatte für
die filmische Qualität von Tonfilmen ein ganz Stück höher. Die Vermarktung des
Films tat das Übrige, um den Film zu einem kollosalen internationalen Erfolg zu
machen.
Fritz Lang war Geschäftsmann genug, um sämtliche Unwegbarkeiten frühzeitig zu
erkennen und geschickt zu umschiffen. Seine leise Kritik an der politischen
Entwicklung in Deutschland, welche nur den aufmerksamsten Beobachtern auffällt,
ist nur ein Teil des Ganzen. Langs Umsicht macht sich schon beim Titel des Films
bemerkbar. Der Arbeitstitel des Films lautete "Mörder unter uns", doch dieser
Titel wurde verworfen. Der Grund hierfür war, daß Fritz Lang befürchtete, daß
sich Hitlers menschenjagende Lakaien angesprochen fühlen könnten. Stattdessen
wählte er den Buchstaben "M" als Filmtitel und auch dies war ein Geniestreich.
Was bedeutet "M"? "Mörder"? "Mabuse"? "Metropolis"? Der Filmtitel läßt
Interpretationsspielraum und weckt Neugier. Hinzu kommt noch, daß "M" in der
Liste der etwa 140 deutschen Filmproduktionen dieses Jahres sofort auffiel.
Dies war ein Titel, welcher das Potential hatte, Besucher ins Kino zu locken,
welche ansonsten ausgeblieben wären.
Die rechte Szene zeigte sich von dem Film durchaus angetan. "M" (1931) ist ein
Film, welcher dahingehend interpretiert werden kann, daß die Kraft des
einfachsten Volkes, des Untergrunds, ausreicht, um der Staatsgewalt eins
auszuwischen. Der andersartige, unmenschliche Mörder wird gefangen und seiner
gerechten Strafe zugeführt.
"M" (1931) ließ die Nazis in anderer Weise als befürchtet aufhorchen. 1933, kurz
nach der Machtübernahme Hitlers, bot der Reichsminister für Volksaufklärung und
Propaganda, Dr. Joseph Goebbels, Fritz Lang die Leitung der deutschen
Filmwirtschaft an. Dieses Angebot lag nahe, denn Fritz Lang war nicht nur ein
Aushängeschild der deutschen Filmwirtschaft, deren propangadistisches Potential
Goebbels völlig zu recht als sehr hoch einstufte. Adolf Hitler hatte
"METROPOLIS" (1926) gesehen und Goebbels mitgeteilt, daß Fritz Lang der Mann
sei, welcher ihnen den nationalsozialistischen Film schenken würde. Außerdem war
Fritz Lang bekennend deutsch-national ausgerichtet und hatte zusammen mit Carl
Boese, Luis Trenker und Victor Janson die Regie-Abteilung der NSBO, der
Nationalsozialistischen Betriebsorganisation, gegründet. Aber Fritz Lang hatte
kein Interesse daran, eine Propagandafilmmaschinerie zu leiten und gab Goebbels
eine hinhaltende Antwort; noch in der gleichen Nacht packte er die Koffer und
setzte sich nach Paris ab.
Seine Karriere in Deutschland war somit beendet. "M" (1931) wurde nach der
Machtübergreifung dann doch noch verboten, aber aus einem Grund, mit welchem
niemand gerechnet hatte und der auch eher als Vorwand zu dienen schient. Das
Verbot des Films beruhte darauf, daß im Dritten Reich die Darstellung von
Triebtätern und psychisch Kranken nicht erlaubt war. Fritz Langs nächster
Film und Antwort auf Hitlers politischen Aufstieg, "DAS TESTAMENT DES DR.
MABUSE" (1932), wurde am 29. März 1933 von der Filmprüfstelle verboten - neun
Monate vor seiner Uraufführung in Wien.




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(334) "M", aka "M: Eine Stadt sucht einen Mörder", aka "Mörder unter uns"
(Nero Film, Deutschland 1931, Regie: Fritz Lang, Drehbuch: Fritz Lang,
Thea von Harbou, Kamera: Fritz Arno Wagner, Darsteller: Peter Lorre,
Otto Wernicke, Gustaf Gründgens, Georg John, Ellen Widmann, Theo Lingen,
Inge Landgut, Theodor Loos, Friedrich Gnaß, Fritz Odemar, Paul Kemp,
Rudolf Blümner, Franz Stein, Ernst Stahl-Nachbaur, Gerhard Bienert,
Karl Platen, Rosa Valetti, Hertha von Walter, Bildformat: 1.20:1,
Tonformat: Movietone, Laufzeit: ca. 106 Minuten)

(335) Ob dies auch noch der Fall gewesen wäre, hätte Fritz Lang damals geahnt,
daß Ruttmann einmal der Autor von Leni Riefenstahls berüchtigtem
NSDAP-Propagandafilm "Triumph des Willens" (1934) sein würde?

(336) Es kann hier schon beinahe als Bestätigung empfunden werden, was sich
während der Premiere des Films im Mai 1931 vor dem Berliner Zoopalast
abspielte. Während der Vorführung tobte vor dem Kino eine Straßenschlacht
und Hitlers braune Soße mischte hierbei kräftig mit.
Manfred Polak
2004-08-26 22:43:13 UTC
Permalink
Post by Ralf Ramge
Tonfilm als Kunst war keineswegs eine neue Idee. Als Vorbild für "M" (1931)
Symphonie einer Großstadt" (1927) auf sich aufmerksam gemacht, einer ungeheuer
erfolgreichen Dokumentation über das Treiben in Berlins Straßen. Dies war jedoch
ein Stummfilm und das widersprach letztlich der Bezeichnung als Symphonie im
Titel des Films.
Aber es gab die brachiale, heftigst umstrittene und leider verschollene
Musik von Edmund Meisel (der auch schon die Musik zu "Potemkin"
geschrieben hatte), die "Berlin" tatsächlich zu einer Großstadtsymphonie
machte.
Post by Ralf Ramge
Fritz Lang war von Ruttmanns Werken ebenfalls sehr angetan(334).
Da ist dir die Nummerierung der Fußnoten durcheinander geraten.
Post by Ralf Ramge
Für die Rolle des Mörders Hans Beckert wollte Fritz Lang einen Darsteller,
welchem der Wahnsinn schon ins Gesicht geschrieben stand. Lang wurde fündig, als
er 1929 eine Vorstellung von Bertolt Brechts "Pioniere in Ingolstadt" in
dessen epischem Theater besuchte.
"Pioniere in Ingolstadt" ist von Marieluise Fleißer. Brecht, der Fleißer
protegierte, griff aber in seiner Berliner Inszenierung gegen Fleißers
Willen in den Text ein und provozierte mit der Aufführung einen
Theaterskandal.
Post by Ralf Ramge
Peter Lorre blieb bis zu seinem zu frühen Tod im Jahr
1964 ein vielbeschäftigter Mann und ist der vielleicht bekannteste und
erfolgreichste Schauspieler, der den Sprung von Deutschland nach Hollywood
wagte.
Und in seiner einzigen Regiearbeit "Der Verlorene" spielte der kurz-
fristig nach Deutschland zurückgekehrte Lorre noch einmal einen
Triebmörder. Aber das deutsche Publikum der 50er-Jahre mochte von
dieser relativ anspruchsvollen Abrechnung mit der Nazi-Zeit nicht
belästigt werden, und "Der Verlorene" fiel durch, worauf Lorre ent-
täuscht wieder in die USA ging.
Post by Ralf Ramge
Aber Fritz Lang hatte
kein Interesse daran, eine Propagandafilmmaschinerie zu leiten und gab Goebbels
eine hinhaltende Antwort; noch in der gleichen Nacht packte er die Koffer und
setzte sich nach Paris ab.
Diese Version wurde später von Lang selbst verbreitet. Aber in einem
Dokumentarfilm über G.W. Pabst, dessen Titel ich vergessen habe, wird
behauptet, dass er das nur erfunden hat und sich erst Wochen später
absetzte.
Post by Ralf Ramge
Fritz Langs nächster
Film und Antwort auf Hitlers politischen Aufstieg, "DAS TESTAMENT DES DR.
MABUSE" (1932), wurde am 29. März 1933 von der Filmprüfstelle verboten - neun
Monate vor seiner Uraufführung in Wien.
Ein netter Kunstgriff von Lang ist, dass im "Testament des Dr. Mabuse"
Kommissar Lohmann wieder auftaucht, wieder gespielt von Otto Wernicke.
In einigen Mabuse-Filmen der 60er-Jahre spielte dann Gert Fröbe den
Lohmann.
Post by Ralf Ramge
(335) Ob dies auch noch der Fall gewesen wäre, hätte Fritz Lang damals geahnt,
daß Ruttmann einmal der Autor von Leni Riefenstahls berüchtigtem
NSDAP-Propagandafilm "Triumph des Willens" (1934) sein würde?
Ruttmanns Entwicklung vom Pazifisten und Avantgardisten in den 20er-
Jahren zum Zuarbeiter der Nazis in den 30ern ist wohl nicht nur mir ein
Rätsel. Für "Triumph des Willens" drehte er eine Rahmenhandlung, die
dann aber von Riefenstahl nicht verwendet wurde. Mit dem fertigen
Film hat er eigentlich nichts zu tun. Aber schon 1933 war er an dem
Machwerk "Blut und Boden - Grundlagen zum neuen Reich" beteiligt,
und ab 1935 drehte er als Angestellter der Ufa-Werbefilm-AG linientreue
Werbe- und Industriefilme, einige harmlos, aber auch solche mit bezeich-
nenden Titeln wie "Metall des Himmels", "Deutsche Waffenschmieden"
und "Deutsche Panzer".

Übrigens drehte Ruttmann schon die Tricksequenz des Falkentraums
für Langs "Nibelungen", Teil 1. Den Auftrag dazu vermittelte ihm die
Scherenschnitt-Königin Lotte Reiniger, an deren "Die Abenteuer des
Prinzen Achmed" er auch mitwirkte.

Manfred
Ralf Ramge
2004-08-27 08:00:38 UTC
Permalink
Post by Manfred Polak
Post by Ralf Ramge
Fritz Lang war von Ruttmanns Werken ebenfalls sehr angetan(334).
Da ist dir die Nummerierung der Fußnoten durcheinander geraten.
Kommt vor :-)
Post by Manfred Polak
Post by Ralf Ramge
Für die Rolle des Mörders Hans Beckert wollte Fritz Lang einen Darsteller,
welchem der Wahnsinn schon ins Gesicht geschrieben stand. Lang wurde fündig, als
er 1929 eine Vorstellung von Bertolt Brechts "Pioniere in Ingolstadt" in
dessen epischem Theater besuchte.
"Pioniere in Ingolstadt" ist von Marieluise Fleißer. Brecht, der Fleißer
protegierte, griff aber in seiner Berliner Inszenierung gegen Fleißers
Willen in den Text ein und provozierte mit der Aufführung einen
Theaterskandal.
Okay, da habe ich unsauber formuliert. Das war im Sinne von "Steven
Spielberg's 'Back to the Future'", Brecht produzierte.
Post by Manfred Polak
Diese Version wurde später von Lang selbst verbreitet. Aber in einem
Dokumentarfilm über G.W. Pabst, dessen Titel ich vergessen habe, wird
behauptet, dass er das nur erfunden hat und sich erst Wochen später
absetzte.
Ich bezweifle auch stark, daß Lang in den späten Interviews wirklich
100% korrekt die Wahrheit berichtete. Das Problem bei solch einer
einseitigen Berichterstattung ist, daß die Geschichte nur zu oft
umgeschrieben wird.
Post by Manfred Polak
Ein netter Kunstgriff von Lang ist, dass im "Testament des Dr. Mabuse"
Kommissar Lohmann wieder auftaucht, wieder gespielt von Otto Wernicke.
*Das* wollte ich mir für die Besprechung dieses Films aufheben :-)
Post by Manfred Polak
Ruttmanns Entwicklung vom Pazifisten und Avantgardisten in den 20er-
Jahren zum Zuarbeiter der Nazis in den 30ern ist wohl nicht nur mir ein
Rätsel. Für "Triumph des Willens" drehte er eine Rahmenhandlung, die
dann aber von Riefenstahl nicht verwendet wurde.
Ja, wahrscheinlich weil er darin Röhmer zeigte, was nach dessen
Ermordung nicht mehr im Sinne der Auftraggeber war.
Post by Manfred Polak
Mit dem fertigen
Film hat er eigentlich nichts zu tun.
Da bin ich mir nicht so sicher. Ich habe Credits gesehen, in welchen
er als Co-Autor aufgeführt wurde und in meinem stillen Kämmerchen rumort
die Erinnerung, daß er zusammen mit Riefenstahl am kompletten Konzept
arbeitete und nicht nur autonom seinen Rahmen drehte.
Es gibt leider nur wenige Quellen, die auf Ruttmanns Arbeit in diesem
Film eingehen. Auch Kracauer verliert darüber leider kein Wort. Und
Ruttmann selbst starb nunmal zu früh, um hierzu noch Rechenschaft
ablegen zu müssen.

Ralf

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