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Post by helmut zeiselPost by Eduard RalphWenn wir eine ganz andere Mathematik hätten, die
mit anderen Axiomatischen Regeln arbeiten würde, änderte das nichts an
der physikalischen Realität. Die Formeln sähen anders aus, das
Resultat bleibt das gleiche.
Selbst wenn es eine "Realitaet", so ist die Physik lediglich ein mehr
oder weniger gutes Modell dieser "Realitaet". Eine andere Mathematik
kann durchaus andere Resultate ueber die "Realitaet" liefern - dann hast
Du wenigstens eine Experiment, um zu ueberpruefen, welche Mathematik die
"Realitaet" besser beschreibt.
Post by Eduard RalphUnd unterstreicht meinen Punkt: Die mathematischen Sätze sind deswegen
doch lang nicht falsch, nur weil der Computer nicht in der Lage ist
mit unendlichem umzugehen.
Das ist eben der Unterschied zwischen reiner und angewandter Mathematik,
auf den ich hinaus will. Du/der reine Mathematiker sag(s)t, wenn der
Computer/die Anwendung mit der Mathematik nicht uebereinstimmt, dann ist
die Anwendung falsch und die Mathematik richtig; der angewandte
Mathematiker geht von der Anwendung aus und muss u.U. feststellen, dass
die gewaehlte Mathematik "falsch" ist, weil sie Anwendung nicht richtig
beschreibt.
Sowas gab es aber auch schon in der Prä-Computer-Zeit. Ich möchte nur an
das 1896 von Henri Poincaré [1, S. 94-108] unter der Bezeichnung
"Bertrand'sches Paradoxon" beschriebene und diskutierte Problem erinnern;
diese Bezeichnung wurde von Poincaré zu Ehren von Joseph Bertrand [2]
geprägt, der es erstmals 1889 vorgestellt hatte.
Die Wurzeln des Problems reichen aber viel weiter zurück, nämlich bis zu
George-Louis Lecelerc de Buffon 1733 [3, S. 43 - 45 ] bzw. 1777 [4, S. 100-104].
Pierre Simon Laplace [5, p. 365-369] hatte wohl auch den Braten gerochen,
aber einen vorsichtigen Bogen darum gemacht.
Das Bertrand'sche Problem klingt ganz harmlos:
In einen Kreis zeichne man willkürlich eine beliebige Sehne. Wie groß
ist die Wahrscheinlichkeit, daß die Sehne länger oder gleich der Seite
eines dem Kreis eingeschriebenen gleichseitigen Dreiecks ist, d.h.
Sehne >= Radius*sqrt(3) .
Buffon hatte diesen Typ von Aufgaben im Zusammenhang mit der Analyse des
"Spiels der eingesperrten Münze" und des "Spiels der geworfenen Nadel"
"... On peut jouer ce jeu sur un damier avec une aiguille à coudre ou
une épingle sans tête ..."
kurz erwähnt, sich dann aber auf seine Münzen und Nadeln konzentriert, und
Laplace hatte sich ebenfalls auf das Bewegen von Strecken fest gegebener
Länge konzentriert.
Joseph Bertrand nun analysierte das obige Problem, und um eine beliebig
gezogene Sehne zu beschreiben, untersuchte er drei Darstellungen:
1) Zwei Punkte werden auf der Kreisperipherie willkürlich gewählt.
Dafür erhielt er die Wahrscheinlichkeit p = 1/3 .
2) Es wird ein beliebiger Kreisdurchmesser gezeichnet, darauf ein beliebiger
Punkt gewählt und die Sehne durch diesen Punkt gezeichnet.
Dafür erhielt er die Wahrscheinlichkeit p = 1/2 .
3) Im Innern des Kreises wird ein beliebiger Punkt gewählt und diejenige
Sehne gezeichnet, die von dem gewählten Punkt halbiert wird.
Dafür erhielt er die Wahrscheinlichkeit p = 1/4 .
Die Rechnungen dazu findet man z.B. in
http://www.cut-the-knot.org/bertrand.shtml
Da er für alle drei Darstellungen eine eindeutige und widerspruchsfreie Definition
der Wahrscheinlichkeit als Verhältnis der günstigen zu den möglichen Fällen
angeben konnte, erklärte er kurzerhand das Problem als nicht korrekt gestellt
und wandte sich angenehmeren Rechnungen zu ... siehe auch die untenstehende
Rezension [2].
Demgegenüber vertrat Henri Poincaré die Meinung, daß das Problem zwar
korrekt, aber unvollständig gestellt sei, und um es eindeutig zu machen, müsse
man noch die gewünschte Wahrscheinlichkeitsdefinition mit angeben.
Dem hat sich im wesentlichen auch 1914 Emmanuel Czuber [6, S.116-119]
angeschlossen, und außerdem noch einige weitere Darstellungen einer
beliebig gezogenen Sehne angegeben, wobei er die zusätzlichen Ergebnisse
p = 1/3 + 1*sqrt(3)/(4*pi)
p = 1/3 + 2*sqrt(3)/(4*pi)
p = 1/3 + 3*sqrt(3)/(4*pi)
erhielt, und dann dieses Kapitel seines Buchs mit "usw." beendet ...
So, und jetzt die spannende Frage: Das Problem ließe sich ja auch
durch ein physikalisches Experiment ähnlich dem Buffon'schen
Nadelwerfen untersuchen, und welcher Wert würde dann herauskommen?
Ich tippe auf p = 1/2 ....
Ich konnte leider bisher nicht feststellen, ob jemand schon ein solches
Experiment wirklich kunstgerecht durchgeführt und veröffentlich hat. Der in
http://www.cut-the-knot.org/bertrand2.shtml
erwähnte Versuch von Edwin T. Jaynes und Charles E. Tyler, der in der
Originalveröffentlichung
http://bayes.wustl.edu/etj/articles/well.pdf --> S. 8
auch nur sehr vage beschrieben wird, überzeugt mich nicht so recht ...
Literatur:
=========
[1] -----------------------------
JFM 27.0190.11
Poincaré, H.
Calcul des probabilités. Leçons professées au cours de physique mathématique
pendant le 2^e semestre 1893-94, rédigées par A. Quiquet. (French) [B]
Paris: Gauthier-Villars. Carré 280 S. 8°. Published: (1896)
http://resolver.library.cornell.edu/math/2143842
[2] -----------------------------
JFM 21.0198.01
Bertrand, J.
Calcul des probabilités. (French) [B]
Paris. Gauthier-Villars et Fils. LVII + 332 S. gr. 8°. Published: (1889)
http://gallica.bnf.fr/scripts/ConsultationTout.exe?O=N099602
Herr Bertrand hat die Vorlesungen, welche er am Collège de France über die
Wahrscheinlichkeitsrechnung und die Methode der kleinsten Quadrate gehalten hat,
zu einem Buche vereinigt, das zu den bezüglichen Werken von Laplace und Poisson
oft absichtlich in Gegensatz gebracht ist. Mit der bemerkenswerten Eleganz
verfasst, die der Schreibweise des Verfassers eigentümlich ist, enthält sich die
umfangreiche Einleitung des Gebrauches mathematischer Formeln, und um den Zugang
zum Gegenstande zu erleichtern, sucht Herr B. auch bei seinen späteren
Entwickelungen mit möglichst wenigen Hülfsmiteln der Analysis auszukommen.
Hauptsächlich ist er aber bemüht, eine scharfe Kritik der Principien zu üben, um
gleich an der Schwelle alle die Aufgaben zurückzuweisen, welche nach ihm in der
Wahrscheinlichkeitsrechnung mit Unrecht behandelt sind. Nur solche Probleme
seien exact zu lösen, bei denen es sich um Ereignisse handelt, für welche die
dem Eintritte derselben günstigen oder ungünstigen Fälle identisch vertauscht
werden können mit denjenigen beim Ziehen von Kugeln aus einer Urne. In allen
anderen Fällen ist dagegen die Wahrscheinlichkeit überhaupt erst zu definiren,
besonders auch wenn die Anzahl der Fälle unendlich gross wird, und es wird an
einzelnen sehr einfachen Beispielen gezeigt, dass hierin der Grund liegt, wenn
bei den neuerdings so beliebten geometrischen Wahrscheinlichkeiten verschiedene
sich widersprechende Ergebnisse erzielt werden. Wenn sonst Lösungen Unklarheiten
zu bieten scheinen, wie die des berühmten Petersburger Problems, so wird die
Quelle in der Fragestellung und in der Auffassung der Lösung nachgewiesen. Die
von Condorcet, Laplace und Poisson behandelten Aufgaben über Wahrscheinlichkeit
der richtigen Urteile in der Rechtspflege werden als ungehörig ausgeschieden,
diejenigen der Statistik als nicht mit der oben erläuterten strengen Auffassung
übereinstimmend erkannt; ihre Lösung wird nur als subjectiv, nicht als objectiv
befriedigend bezeichnet. Der Bernoulli'sche Satz wird nach verschiedenen
Methoden bewiesen und als das Hauptgesetz der reinen Wahrscheinlichkeitsrechnung
von verschiedenen Seiten beleuchtet. Die Ableitung der Formel für das Gesetz der
Beobachtungsfehler erfolgt nach den verschiedenen üblichen Methoden, und die
Prüfung der Grundlagen der hierbei gebrauchten Axiome und Schlüsse lässt die
Unzulänglichkeit derselben hervortreten. In der Uebereinstimmung dieser Formel
mit der Erfahrung, die sich in der Ausgleichungsrechnung zeigt, findet indessen
der Verfasser eine Bestätigung ihrer Wahrheit. Es ist natürlich, dass dieser
wichtigen Frage ein grosser Raum gewährt ist, und die Art der Kritik ist ebenso
eingehend wie massvoll. Alle Sätze werden durch hübsch gewählte Beispiele
erläutert, unter denen die meisten vollständig besprochen werden, während bei
den leichteren der ersten Hälfte auch nur die Resultate hingesetzt sind. Zur
Einführung in die Wahrscheinlichkeitsrechnung ist daher das Werk sehr gut
geeignet. Durch seine geistreiche Kritik wird es manche abhalten, in den
Fusstapfen Condorcet's zu wandeln, um ``die moralischen und politischen
Wissenschaften mit der Fackel der Algebra zu beleuchten''.
[ Lampe, Prof. (Berlin) ]
[3] -----------------------------
Editor's note concerning a lecture given 1733 by Mr. Le Clerc de Buffon
to the Royal Academy of Sciences in Paris ...
Histoire de l'Academie Royale des Sciences etc. pour l'Année MDCCXXXIII.
Printed 1735.
http://gallica.bnf.fr/scripts/ConsultationTout.exe?O=N003530
[4] -----------------------------
Buffon, G.-L. Leclerc de: Histoire naturelle générale et particulière,
Supplément Vol. 4, Article: Essai d'arithmétique morale.
Paris: L'Imprimerie Royale 1777.
http://gallica.bnf.fr/scripts/ConsultationTout.exe?O=N097517
[5] -----------------------------
Laplace, P. S.: Théorie analytique des probabilités.
Paris: Vve Courcier, 1st edition 1812.
3rd edition 1820:
http://gallica.bnf.fr/scripts/ConsultationTout.exe?O=N077595
[6] -----------------------------
JFM 45.0343.01
Czuber, E.
Wahrscheinlichkeitsrechnung. 1 Bd. 3. Aufl. (German) [B]
Leipzig: B. G. Teubner. XII + 462 S. 8°. Published: 1914
http://gallica.bnf.fr/scripts/ConsultationTout.exe?O=N099606
Das vorliegende Werk, das als Band IX_1 in Teubners Sammlung von
mathematischen Lehrbüchern aufgenommen ist, bietet gegenüber den früheren
Auflagen verschiedene Erweiterungen und Vertiefungen.
Unter ihnen ist erstens der Paragraph über die Theorie der Mittelwerte zu erwähnen,
der noch weiter ausgebaut zu werden verdient; auch wurden weitere Spielprobleme
aufgenommen, die Theorie der geometrischen Wahrscheinlichkeiten um einige
Beispiele vermehrt und die Theorie der kontinuierlichen Wahrscheinlichkeiten nach
Bachelier in einem eigenen Abschnitt dem 1. Teil des Buches ``der
Wahrscheinlichkeitstheorie'' hinzugefügt. Den Kern dieses Abschnittes bildet die
Differentialgleichung
d^2 omega / d xi^2 - (4/a^2) d omega / d tau = 0
für die Elementarwahrscheinlichkeit omega . Die Ausführungen über das
Bernoulli'sche und Poisson'sche sowie über das Bayes'sche Theorem
wurden einer sorgfältigen Durchsicht unterzogen und in einzelnen Punkten noch
weiter vertieft, dass bei dem Beispiel der ``nichtzurückgelegten Kugel'' nicht
``übernormale'', sondern ``unternormale'' Dispersion vorliegt, hat bereits
Bohlmann in seiner Besprechung dieses Buches im Archiv und v. Bortkiewicz
in seinen Iterationen hervorgehoben.
Der 2. Teil, ``Ausgleichungsrechnung'', ist nicht wesentlich verändert.
Im 3. Teil ``Kollektivmasslehre'' ist auf die analytische Darstellung der
willkürlichen
Funktionen (siehe v. Mises) etwas näher eingegangen.
Auf die bewährten Vorzüge des Czuber'schen Werkes näher einzugehen, erübrigt
sich bei der allgemeinen Wertschätzung, die dasselbe in den weitesten Kreisen
geniesst.
[ Böhm, Dr. (München) ]
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Grüße
Hermann
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