Post by Roland FranziusPost by Jakob Achterndiek[..] Ich sehe hier nicht den Untergang der
deutschen Sprache, sondern nur einen Sprachwandel. In der U30-Gruppe
ist dem Dativ wahrscheinlich schon relativ üblich.
Meiner Einschätzung nach ist dieser Kasus nach "gedenken" in 20 Jahren
zulässige Alternative.
Der Wortschatz der Uni Leipzig bietet jetzt schon eine ganze Reihe
Wenn du dies im Sinne von Horkheimers und Adornos "Dialektik
Wer heute noch als Sprachschlamper für leicht anrüchig gilt,
der wird morgen als positiver Vorkämpfer des Modern Speak
gefeiert. Also: Nur Mut !!
"A gedenkt des B" ist offenbar bezüglich Objekt und Subjekt eindeutig,
hingegen ist "Das Gedenken des A des B" sowohl verwechslungsan- wie
schwerfällig.
Substantivierte Infinitive sind oft eher verunglückte Versuche, eine
bestimmte gedankliche Vorstellung in ein eigentlich unpassendes syntaktisches
Muster zu pressen. Ist ein solches 'Gedenken des A des B' eigentlich nur
eine Reißbrett-Konstruktion oder gibt's das auch in der freien Natur?
Post by Roland FranziusDas Sprachhirn vermerkt diese Falle der Substantivierungs ja beim ersten
Gebrauch automatisch und wird umgekehrt "A's Gedenken des B" in "A's
Gedenken an/für B" kanonisieren und die religös-weihvolle Formel denen
überlassen, die dafür beruflich geschult werden.
Ich weiß nicht genau, woran Du da denkst, ich tippe auf Aktantentausch
[Gen. subjectivus vs. objectivus, Wikipedia schreibt jeweils 'subiec-/obiecti-
vus(?)]. Das gibt's ja in einfachen Sätzen schon beim Akkusativ: 'Klaus hat
Dieter gestern in der Stadt gesehen' wird kaum interpretiert als 'den Klaus
hat der Dieter ...', da greift dann eine einfache Regel nach dem Prinzip des
englischen Satzbaus: Wenn keine Kasusmarkierungen vorhanden sind, steht das
Subjekt vorne. Entsprechend würde eine Doppelgenitiv-Konstruktion immer als
'der subjektive Genitiv steht vorne' interpretiert.
Post by Roland FranziusDas, was da als Sprachverfall inkriminiert wird, ist ungefähr derselbe
Kulturverfall, wie zB die Durchsetzung des regelbasierten Systems in
Mathematik und Jura gegen die gemeingermanische Kasuistik beim Thing und
das Auswendiglernen des 1x1/klein/groß in der einklassigen preußischen
Dorfschule.
Hm. Du willst wahrscheinlich nicht sagen, dass die Beherrschung des Einmaleins
nicht seinen Platz und nicht seine Berechtigung hat. Deutschland ist auf dem
Gebiet des Rechts ja dabei, immer mehr regelbasierte Systeme in Umlauf zu
bringen, derzeit befindet sich eines zur Sommerzeit in der Mache, auf der
Grundlage von glasklaren rationalen Entscheidungen, versteht sich. Irgend-
wann werden wir für jeden Handgriff eine Durchführungsverordnung haben, auch
beim Denken machen wir da nicht halt, siehe Gender. Die Praxis der
Konfliktregelung per Zweikampf war dann doch effektiver. Ob das was mit
'Thing' zu tun hat, weiß ich nicht. Ob es was gebracht hätte, die Kinder der
preußischen Dorfschule mit Zahlentheorie zu nerven?
Aber im Ernst: Ich verstehe Deine (milde) Polemik als Aufruf zu mehr
Aufgeschlossenheit gegenüber moderneren Praktiken und Betrachtungsweisen.
Im Moment erleben wir auf relativ breiter Front einen Rollback in vormoderne
Denkweisen, dem aber sehr viele sich nicht anschließen wollen. Den Widerstand
gegen den Sprachwandel sehe ich auf einer anderen Ebene: Man muss nicht jede
sprachliche Neuerung schön finden, auch nicht, wenn sie sich massenhaft
durchsetzt, dagegen gibt es psychische Barrieren. Was daran nicht funktioniert,
ist die orthodoxe Pose des Alleinverfügers über das Recht, über Sprachrichtig-
keit zu befinden. Damit kann man sich auf die Länge nur blamieren. Man wird
die Probleme aus dem Meeresspiegelanstieg nicht mit Sandsäcken lösen. Und
Sprache ist kein regelbasiertes System, sondern ein offenes Meer.
Gruß Ralf Joerres