klappe4spam (***@tiscali.de) schrieb
am 05.07.04 um 22:03 in /de/soc/politik/misc
zum Thema "Re: Warum Nationalstolz dumm ist":
Teil 1
Post by Michael FriedrichPost by Martin BlumentrittDer Prozess ist schon im Gange, nicht erst in diesem Jahrhundert, sondern
seit Jahrhunderten und ist unaufhaltsam. Der Nationalismus wird immer
bedeutungsloser, aus seinem eigenen Widerspruch heraus. "Nation" ist ja eine
"eingebildete Gemeinschaft"(Benedikt Anderson).
"imagined community" muss nicht eingebildet im Sinne von unwirklich
heissen. Eine Gemeinschaft im Sinne der Vorstellung, weil wir bspw. einen
Deutschen erkennen, weil er Deutsch spricht, das Aussehen hat etc. Nation
entsteht hauptsaechlich aus einem Kulturkreis heraus, oder aus einer
Identitaet heraus.
Wie identifiziert sich ein Nationalist als Deutscher? Wie fuehlt sich ein
Nationalist seinem Land zugehoerig, bzw. wie macht er das fest?
Das ist beliebig, weil sinnlos. Es gibt keinerlei empirische Eigenschaften,
an dem eine Nationalitaet festzumachen waere.
Post by Michael FriedrichAn der
deutschen Sprache alleine kann es nicht liegen, sonst muesste ein Preiss dem
Bayern oder Oessi (Kulturkreis) zugehoerig fuehlen. Trotzdem braucht jeder
Ein ideologisches, nationales nicht. Eher die Klassensolidaritaet gegen den
Klassenfeind.
Post by Michael FriedrichFamilie-Gemeinde-Stadt-Region-Land-Nation...
Post by Martin BlumentrittUnd zwar speziell eine
eingebildete Gemeinschaft, die durch die wirklichen Verhaeltnisse
konterkariert wird und daher schon deswegen nicht ohne Feindbestimmungen
auskommt.
Verstehe ich nicht ganz. Nationalismus muss keine Feindbestimmung
enthalten.
Ohne Feind keine "Nation". "Nation funktioniert nicht ohne Feindbestimmung,
weil es keinerlei empirische Anhaltspunkte gibt, um "Nationen" zu
unterscheiden.
Dazu pflege ich immer folgendermassen zu argumentieren.
"Nation" oder "Volk" ist definiert als vorgestellte oder eingebildete
politische Gemeinschaft in der Geschichte.
" Nation ist ein Begriff, der, wenn ueberhaupt eindeutig, dann
jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitaeten der ihr
Zugerechneten definiert werden kann."(Max Weber, Wirtschaft und
Gesellschaft, S. 528)
Die Konsequenz, die aus dieser alten Einsicht zu ziehen ist, dass
solche Begriffe wie "Volk" oder "Nation" nicht als materialer Urgrund
aufzufassen ist, sie gehoert zur "Wertsphaere"(Weber ebenda). "Volk" und
"Nation" ist vom Nationalismus oder Rassismus her zu verstehen.
Auffassungen, die Nationalismus als "uebersteigertes Nationalgefuehl"
definieren wollten, sind also abzuweisen. Benedikt Andersons Arbeit
ueber "Nation" fasst "Nation" als rein kommunikativ hergestelltes,
gedankliches Konstrukt auf, als "vorgestellte politische
Gemeinschaft". Damit ist als ein erster Schritt die Suche nach
irgendwelchen faktisch vorhandenen Gemeinsamkeiten, die zu nichts
fuehrte, prinzipiell aufgegeben und einer wirklichen Erforschung der
Weg geoeffnet. Denn es sind nun die historischen Umstaende und Faktoren
Thema, die die Ausbildung der Gemeinschaftsvorstellung "Nation"
ermoeglichten. Die neuen Kommunikationsmedien und -beziehungen waren
wesentlicher Faktor fuer den Glauben an die Existenz und Einheit der
semantisch hergestellten Fiktionen wie "Volk" und "Nation".
Allerdings ist die Arbeit von Anderson nur der Anfang und noch sehr
allgemein gefasst. Inhalt, Logik und Spezifika der "vorgestellten
politischen Gemeinschaft" ist naeher zu bestimmen. Insbesondere die im
Nationalismus immer enthaltene Vorstellung und Forderung einer
Identitaet zwischen den Individuen und den Individuen auf der einen
Seite und dem Staat, bei Anderson nicht thematisiert, hat Thema zu
sein. Es fehlt eine ideologiekritische Analyse der
Gemeinschaftsvorstellung von "Volk" und "Nation". Des weiteren
ermangelt es bei Anderson einer Modernisierungstheorie, die den
Umbruch von der traditionalen zur modernen Gesellschaft angemessen
auf den Begriff bringt, obwohl er ja "Nation" als Produkt der Neuzeit
erkennt. Daher widmet er sich fast ausschliesslich nur der Entwicklung
der - nicht unwichtigen - Kommunikationsmedien. Ebenso im Jahre 1983
wie Anderson analysierte Ernest Gellner die Nation als eine
historisch neue Erscheinung. Er nuanciert vor allem den vom Staat
betriebenen Aufbau eines Bildungssystems, das sprachlich-kulturelle
Homogenisierungsleistungen erbringt. Er fasst "Nation" als staatlich
hergestelte "Hochkultur". Die Inhalte der Gemeinschaftsvorstellung,
die Homogenitaetsforderung und Ausgrenzungstendenz bzw. die Rolle von
Feindbildern zu Bildung der Gemeinschaftsvorstellung der "Nation"
geraet ihm aus dem Blick. Nationalismus gilt ihm als "politisches
Prinzip, das besagt, politische und nationale Einheiten sollen
deckungsgleich sein". Allenfalls am Rande erwaehnt er dass Minderheiten
innerhalb der Staatsgrenzen das "Nationalgefuehl" hervorrufen muessen.
Diesen Sachverhalt kann er aber weder in Vehemenz und Entstehung
erklaeren.
Daher ist auf neuere Beitraege der Theorie der "Nation" und zur Genese
der Vorstellung "Volk" abzuheben. Klaus Holz hat Andersons Theorie
praezisiert:
"Nation ist eine vorgestellte politische Gemeinschaft in der
Geschichte. Diese Semantik stellt die Identitaet einer Gruppe von
Individuen und zwischen diesen Individuen und ihrem Staat her. Die
Nation wird beiden Verhaeltnissen vorausgesetzt und erhaelt wenigstens
tendenziell den Rang einer Gewissheit und nicht weiter hintergehbaren
Letztinstanz."(Holz, Der Ort der Mythen der Nation, in: Kritische
Berichte. Zeitschrift fuer Kunst- und Kulturwissenschaften, 1997, 55)
Ideologietheoretisch ist die Gemeinschaft von Holz naeher bestimmt, es
ist von ihr als Vorstellung die Rede, wenn die Existenz und Identitaet
der behaupteten Gruppe in einem absolut gesetzten Fixpunkt verankert
ist und daraus hergeleitet wird und dieser Fixpunkt axiomatisch als
vorgegeben gilt und daher fraglos akzeptiert wird, also jeder
Begruendung oder Erklaerung entrueckt ist. Es handelt sich mit anderen
Worten um einen Glauben. Daraus folgt des Weiteren, dass die
Vorstellungsgemeinschaft unabhaengig vom Willen und Wollen der
Gruppenmitglieder besteht, d.h. logisch vor- und uebergeordnet ist:
"Das heisst: Gemeinschaft entsteht und besteht nicht kraft Entschluss
ihrer Mitglieder. Gemeinschaft bedarf nicht der Zustimmung, sondern
ist Bestimmung."(Georg Vobruba, Gemeinschaft als
Gesellschaftsprojekt, in: Gemeinschaft ohne Moral. Theorie und
Empirie moralfreier Gemeinschaftskonstruktionen, 1994 37f, in
Anschluss an F.Toennies "Gemeinschaft und Gesellschaft)
Hier erkennen wir schon die Potentiale der Gemeinschaftsvorstellung
"Volk" oder "Nation" fuer autoritaere und diktatorische Herrschaft.
Denn die unhinterfragbare Identitaet zwischen Gemeinschaft und
Fuehrung, wobei allein letztere eine privilegierte Beziehung zum
Absoluten hat. Hier kommt die Einsicht C.Schmitts zum Tragen, dass
moderne politische Begriffe saekularisierte theologische Begriffe
seien (Bei Schmitt allerdings nicht kritisch, sondern affirmativ
gemeint).
Nun ist - wie schon erwaehnt - der Begriff der
Gemeinschaftsvorstellung noch zu allgemein und laesst sich zahlreichen
Gesellschaften und historischen Epochen zuordnen. Wir brauchen also
eine differentia specifica, spezifische Differenz, die darin besteht,
dass die Gemeinschaftsvorstellung "Nation" oder "Volk" unter
Bedingungen, "unter sozialen und kognitiven Voraussetzungen
konstruiert wurde und wird, die sich fundamental von traditionellen
Verhaeltnissen und Weltbildern unterscheiden."(Holz a.a.O. 1997, S.
58)
Diese soziale und kognitive Voraussetzung ist die Unmoeglichkeit einer
Identitaet der modernen Gesellschaft, die Luhmann sehr schoen auf den
Begriff gebracht hat:
"Die moderne Gesellschaft ist durch die Umstellung auf funktionale
Differenzierung so komplex geworden, dass sie nicht mehr als
Einheit repraesentiert werden kann. Sie hat weder eine Spitze, noch eine
Mitte [...] Daran scheitern letzlich wohl alle Versuche, in einer
kollektiven Identitaet Anhaltspunkte fuer individuelle
Identitaetsbildung zu gewinnen."(Luhmann, soziologische Aufklaerung Bd.
6, S. 138)
Das Individuum ist aber gezwungen eine grundsaetzliche biographische
Einheit zu konstituieren, horizontal in seinen Lebensalltag durch
Teil-Inklusionen in verschiedene Subsysteme, als auch vertikal in
seiner Lebensgeschichte, also in der Abfolge wechselnder
Kombinierungen von Teil-Inklusionen, die mit sozialer und regionaler
Mobilitaet sich steigern. Da es keinen Ort gibt, wo der Einzelne als
gesellschaftliches Wesen existieren kann, kann das Individuum nicht
mehr durch Inklusion, sondern nur durch Exklusion definiert werden.
Die gesellschaftlich, sozial produzierte Individualisierung erfolgt
gegen die Gesellschaft und das Individuum erfaehrt sich gegenueber der
Sozialwelt und den anderen Individuen als fremd und distanziert. Die
Individuen - so auch B.Anderson - treten als Fremde gegenueber.
Soziale Verortung ist strukturell prekaer und muss gegen die Realitaeten
der modernen Gesellschaft immer wieder neu reproduziert werden.
Vor exakt diesem gesellschaftlichen Hintergrund ist das Spezifikum
der Gemeinschaftsvorstellung von "Nation" oder "Volk" zu sehen. Sie
ist historisches, gesellschaftliches Resultat des Mangels an
wirklicher Gemeinschaft, kann auf kein reales gesellschaftliches
Moment sich berufen. "Volk" und "Nation" sind
Gemeinschaftsvorstellungen, die anders als traditionelle Gesellschaften
ohne gesellschaftsstrukturelles Pendant ist. Die
Gemeinschaftsvorstellungen artikulieren ein grundsaetzliches Unbehagen
im Bestehenden und werden realiter permanent dementiert durch die
Gesellschaft. Daher kann die Gemeinschaftsvorstellung von "Volk" und
"Nation" als antimoderne Antwort auf die moderne Gesellschaft
aufgefasst werden. "Nation" und "Volk" suggerieren das, was
Gesellschaft unmoeglich macht, die Aufhebung von Individualisierung
und strukturelle Fremdheit der atomisierten Individuen oder
"Deviduen"(G.Anders). "Nation" und "Volk" sind unerfuellbare
Erwartungen. Und diese Erwartungen richten sich an die Staatsfuehrung,
sie solle die "nationale Gemeinschaft" (wieder)herstellen und
garantieren. Diese Fixierung entsteht und kann entstehen, weil der
Staat - der ja nicht Weltstaat, sondern viele Staaten ist - bestimmen
muss, wer als Staatsbuerger gilt und wer nicht.
Waehrend fast alle sozialen Beziehungen fluechtig sind, alles auf
Instabilitaet beruht, ist die abstrakte Zugehoerigkeit zum Staat
kontinuierlicher, kann gar als quasi-natuerlich und sicher erscheinen.
Erscheinen ist aber nicht Sein. Des weiteren beansprucht der Staat
seit der franzoesischen Revolution den "Willen des Volks" zu
repraesentieren, das "Gemeinwohl" zu garantieren und ueber den
Interesser aller Buerger zu stehen, auch Fiktionen. Und der Staat soll
die Risiken der kapitalistischen Oekonomie abfedern.
Auch diese Bindung der Gemeinschaftsvorstellung "Volk" oder "Nation"
aendert nichts an der grundsaetzlichen Paradoxie, dass gesellschaftliche
Einheit nur simuliert wird, waehrend sie durch die reale Gesellschaft
durchgehend konterkariert wird. Eine Identitaet von Gesellschaft und
Individuum ist nicht moeglich, das Allgemeine ist Realabstraktion.
Daher bedarf es der staendigen Mobilmachung im Namen von "Volk" und
"Nation", permanenter Operationen und Kommunikationen, die folgende
Strategien verfolgen: die 1. Inszenierung von Gemeinschaft, 2.
Naturalisierung und Ethnisierung von Gemeinschaft, 3. Konstruktion
einer Nationalgeschichte und 4. Selbstidentifikation durch
Feindmarkierung.
Ad 1) Ueber Mythen, Symbole, Fahnen und Denkmaeler wird eine nationale
Liturigik analog der religioesen entwickelt. Im Tode findet real wie
symbolisch die Nation auch ihr Prinzip:
"Es gibt keine fesselnderen Symbole fuer die moderne Kultur des
Nationalismus als die Ehrenmaeler und Graeber der Unbekannten Soldaten.
Die oeffentlichen Referenzen, die diesen Denkmaelern gerade deshalb
erwiesen werden, _weil_ sie entweder leer sind oder niemand weiss, wer
darin bestattet ist, haben kein Vorlaeufer in frueheren Zeiten. (...)
Doch so entleert von bestimmbaren menschlichen Ueberresten oder
unsterblichen Seelen diese Graeber auch sind, so uebervoll sind sie von
gespenstischen _nationalen_ Vorstellungen."(B.Anderson, Die Erfindung
der Nation S.18)
Ad 2) Die Naturalisierung und Ethnisierung von Gemeinschaft ist die
Imagination gemeinsamer Abstammung. "Das uns so archaisch anmutende
Prinzip der Blutsverwandtschaft ist nicht Ausgangspunkt, sondern
Folge der Definition des Staatsvolks im europaeischen Staatensystems."
(Matthias Boes, Ethnisierung des Rechts? Staatsbuergerschaft in
Deutschland, Frankreich, Grossbritanien und den USA, in Koelner
Zeitschrift fuer Soziologie 45 Jg. 1993 619-643, S. 639)
Die wie auch immer gefasste naturhafte Verankerung der Existenz einer
Wir-Gemeinschaft begruendet die konstitutive Naehe und
Entwicklungstendenz der Gemeinschaftsvorstellung von "Volk" und
"Nation" zu biologisch-rassistischen Vorstellungen
Ad 3) Renan hatte bereits die Einsicht, dass "das Vergessen oder gar
das Missverstehen von Geschichte ein wesentliches Moment bei der
Herausbildung einer Nation" ist. Die nationalistische IndoktriNation
will "Volk" oder "Nation" als immer schon existente Gemeinschaft
aufweisen und verankern, moeglichst von fruehster Vorzeit bis zur
Gegenwart, gleichgueltig welche Kriterien dafuer herhalten muessen,
Abstammung, Rasse, Sprache, Kultur. Das "Volk" soll dann so eine
natuerliche Einheit durch die Geschlechter hindurch verbuergen. Da die
Wirklichkeit solche Einheitsvorstellung dementiert, soll die Konstruktion
der Nationalgeschichte als eine Kette von Schlachten, Siegen oder
Niederlagen, grossen Herrschern und opferwilligen Maertyrern das "Volk"
in der Vergangenheit begruenden. Hier sehen wir allerdings heute beim
deutschen "Volk" Schwierigkeiten, gerade wegen der Vergangenheit, die
wenig ruehmlich ist. Darum soll ja immer Schlussstrich gezogen werden,
die Schande verborgen werden. Und diejenigen, die da stoeren, sollen
zum Schweigen gebracht werden. Jeder der Opfergruppe ist ein lebender
Stoerfaktor fuer die nationale Indoktrination.
Ad 4) Und so sind wir schon bei der Markierung von Feinden. Dass in
Krisenzeiten innere Konflikte und Integrationsdefizite zu
nationalistischer Ausgrenzung und Aggression nach aussen fuehren, heute
etwa gegen die USA und Israel, wie wir es in Deutschland sehen, ist
so trivial, dass es immer wieder von Historikern bemerkt wurde.
Entscheidender ist - und das betonen neuere Arbeiten zum Begriff von
"Volk" und "Nation" - dass die aggresive Abgrenzung und die
Entwicklung von Feindbildern keineswegs erst in Krisensituation
entstehen, sondern integraler Bestandteil der
Gemeinschaftsvorstellung von "Nation" und "Volk" sind. Die "Nation"
benoetigt allein deswegen einen Feind, weil in der funktional
ausdifferenzierten Gesellschaft jede Behauptung von Identitaet durch
die reale Nichtidentitaet dementiert wird. Die gesellschaftlich
Individualisierten sind unabdingbar und unaufhebbar fremd und fern
voneinander und nichts existiert, was das in der kapitalistischen
Gesellschaft aendern und zu einer solidarischen Gemeinschaft fuehren
koennte. Dieses Dilemma wird geloest mit der Konstruktion von "Fremden",
"Anderen", "Feinden". Die institutinelle Basis dafuer liefert der
Staat in der Unterscheidung von In- und Auslaendern, Staatsbuergern und
Nicht-Staatsbuergern. Selbst wenn diese unideologisch erfolgt, erfolgt
eine grundsaetztliche Beziehung von Freund und Feind, wer dazugehoert
und wer nicht. Das Aussen wird nicht nur als konturlose Menge von
Anderen konstruiert, sondern als ein Menge von auf Unterschiede
gebrachte andere "Nationen" mit jeweils anderem "Nationalcharakter".
Durch die Stereotypisierung wird die inhaltliche Leere des
Unterschieds von Wir und Denen verdeckt. Erst die Konstruktion des
Anderen als Fremden konturiert das Selbstbild der ersehnten
Gemeinschaft. Und da man sich nicht mit negativen Eigenschaften
identifizieren kann, muessen die Eigenschaften positiv verzeichnet und
nach der Logik der Reziprozitaet die Anderen negativ charakterisiert
werden. Dazu reicht es nicht aus, dass bloss Andere konstruiert werden,
die einfach nur anders sind oder relativ weniger anziehend, sondern
die Gemeinschaftsvorstellung "Volk" und "Nation" ist immer auch
begleitet von der Identifizierung eines Anderen als bedrohlichem
"Feind". Aus der Mannigfaltigkeit von Anderen resultiert in der Regel
ein Hauptfeind, die Notwendigkeit eines Gegenbildes der eigenen
Nation resultiert in einem Feindbild. Historisch sah man das an der
grossen Bedeutung sog. "Erzfeinde" bei der Einbildung, also Bildung
der "Nation". "Die Definition des Feindes ist hier gleichurspruenglich
mit der Definition der durch ihn bedrohten Einheit."(Hoffmann, Die
Konstitution des Volkes durch seine Feinde, in Jahrbuch fuer
Antisemitismusforschung 2, hrg. Wolfgang Benz, Frankfurt 1993, S. 22)
"Das Gemeinschaftsgefuehl der Massen braucht zu seiner Ergaenzung die
Feindseligkeit gegen eine aussenstehende Minderzahl."(S.Freud, Der
Mann Moses und die monotheistische Religion, SA Bd. IX, 1974 S. 538)
Insbesondere Kriege eignen sich zur Formierung der "Nation", weil die
Bedrohung zur existentiellen Bedrohung gesteigert wird. Der
reaktionaere Romantiker Adam Mueller pries daher den Krieg als
Gemeinschaftsbildner:
"Dass der Staat ein auf Tod und Leben verbundenes Ganzes sey, ...
erkennen seine Teilnehmer im Friedenszustande sehr schwer, da
nehmlich ist jeder Teilnehmer viel mehr gegen seine Mitteilnehmer,
als gegen den benachbarten Staat, aufmerksam und feindlich
eingestellt."(Adam Mueller, Elemente der Staatskunst Jena 1922 I, S.
84) Erst Kriege gaeben daher den Staaten "ihre Umrisse, ihre
Festigkeit, Individualitaet und Persoenlichkeit."(Mueller a.a.O. 1922
Bd. II S. 5)
Dem Feind nach aussen korrespondiert stets ein Feind nach innen, der
Fremde im eigenen Land. Der Auslaender im Inland ist der Prototyp des
Fremden. Er erfuellt im Vergleich mit dem aeusseren Feind die Funktion
eines Gegenbildes, das auf vorurteilshaften, abwertenden
Eigenschaftszuschreibungen im unmittelbaren Alltag beruht und
stabilisiert werden kann. Fremde SIND nicht fremd, sie werden fremd
GEMACHT. Die Doppeldeutigkeit von "fremd" ist im Englischen
aufgehoben in der Unterscheidung von "strange" und "unknown". Die
generelle strukturelle Fremdheit, nur ausnahmsweise kennen wir den
Anderen, wie ein Blick in das Telefonbuch zeigt, wird auf die zu
"Fremden" erklaerten projiziert und so im Gegenzug Vertrautheit mit
den Eigenen suggeriert. Da die reale Fremdheit aller aber die
Vertrautheit staendig dementiert, werden zwei Fliegen mit einer
Klatsche geschlagen. Der innere Feind wird verantwortlich gemacht
auch fuer diese Fremdheit und dafuer, dass die Einheit der "Nation" sich
staendig als blosse Schimaere erweist. In Deutschland waren nur die
Juden das geeignete Feindbild und so spielte der Antisemitismus eine
grosse Rolle bei der Entstehung der "Gemeinschaftsvorstellung der
politischen Gemeinschaft" "Nation".
Nun war die Erfindung der deutschen "Nation" mit der offensichtlichen
Unauffindbarkeit der Einheit und Gemeinschaft in der politischen und
gesellschaftlichen Wirklichkeit konfrontiert. Ernst Moritz Arndt
suchte vergeblich nach einem deutschen Volk: "Deutsches Volk? Was
bist du, und wo bist du? Ich suche und finde dich nicht."(Ernst
Moritz Arndt, Deutsche Volkswerdung. Sein politische Vermaechtnis an
die deutsche Gegenwart. Kernsellen aus seinen Schriften und Briefen,
hrsg. Carl Petersen, Paul Hermann Ruth, Breslau 1934 S. 62)
Die revolutionaer sich konstituierende Nation - als
Drittenstandsbegriff - Frankreichs konnte aus einer zentralistisch
verwalteten absolutistischen Monarchie mit relativ feststehendem
Territorium aufbauen, waehrend das prospektive deutsche Land aus
einer Vielzahl politischer Einheiten bestand. Der absolutistische
Zentralismus fehlte. Daher konnte bei der Genese der
Gemeinschaftsvorstellung die Rolle des Feindbildes in besonderer
Schaerfe zutage treten. In Frankreich war sie natuerlich auch
vorhanden, aber der Gegensatz zu Adel und Klerus dominierte. Der
revolutionaere Kontext der Konstruktion der Gemeinschaftsvorstellung
der franzoesischen "Nation", stoerte allerdings die Deutschen und machte
auch ein Moment das deutschen Nationalismus aus.
Es wurde nicht bloss Napoleon und seine Armee zum Feind erklaert,
sondern das franzoesische "Volk" wurde als Ganzes zum hassenswerten
Feindbild stilisiert. "Daher muss ein Volk einem Volke, solange es als
solches bestehen will, durchaus gegenueberstehen, und fast feindselig
gegenueberstehen."(Ernst Moritz Arndt a.a.O. 1934 S. 111) Die
Deutschen sollten erkennen, dass "sie ein viel besseres und edleres
Volk sind als die Franzosen"(Ernst Moritz Arndt, Werke. Auswahl in
zwoelf Teilen, hrsg. August Leffson und Wilhelm Steffens o.J. S. 178f)
"Lasst uns die Franzosen nur recht frisch hassen ... als Deutsche, als
Volk beduerfen wir dieses Gegensatzes."(Arndt a.a.O. o.J. IX 139) Eine
Schrift hiesst dann ja auch "Ueber den Volkshass". Und Fichte ist ganz
deutlich: "Im Kriege und durch gemeinschaftliches Durchkaempfen
desselben wird ein Volk zum Volke." Allein der Krieg gegen Frankreich
- so Goerres - koenne "unserm Volke die Einheit gegen." Der Opfertod
ist der Leitfaden fuer die "Nation".
Ein zweites Moment der deutschen Nationsvorstellung ist die Tendenz
zur Naturalisierung und Ethnisierung der "Nation". Es wurde immer
inhaltsleer auf ein transzendentes "deutsches Wesen", auf ein
"Volksgeist", "Volksthum" oder "Volksthuemlichkeit" sich berufen. Die
ganze Romantik triefte nur so von arischen Mythen. Friedrich Schlegel
war nicht weniger als J. Grimm Anhaenger des Mythos einer
nordisch-germanischen Rasse, die allen anderen ueberlegen sei. Es
herrschten organische Vorstellungen vor, "dass alle Mitglieder
gleichsam nur Ein Individuum bilden sollen". Dazu muessen "alle von
der naemlichen Abstammung sein,.. desto mehr wir es eine Nation sein".
Ein drittes Moment in Deutschland war: Autoritaere Tendenzen waren
hier von Anfang an impliziert. Die jeder Gemeinschaftsvorstellung
innewohnende Ueberordnung des Ganzen ueber die Einzelnen praegte in
Deutschland sich infolge der Naturalisierung besonders aus. Adam
Mueller hielt es fuer entscheidend, dass sich jeder "unaufhoerlich wieder
dem Ganzen unterwirft und hingiebt"(Mueller a.a.O. 1922 I 329) Der
Gesamtwille soll auch der der Einzelnen sein, wobei allerdings die
Fuehrungsinstanz einen privilegierten Zugang zum Inhalt des
Volkswillen hat. " Durch das Volk heisst mir durch die Idee des
Volkes "(Ernst Moritz Arndt, Germanien und Europa. Ein Buch an der
Schwelle unseren Zeitalters, System, Bedeutung, Einordnung in die
Zeit, hrsg. Ernst Anrich, Stuttgart 1940 S. 196) Der weise
Gesetzgeber tue schon das, was das Volk wolle.
Als viertes Moment haben wir den besonders hervortretenden
antimodernen Impuls. die Stossrichtung war antifranzoesisch und mehr
und mehr antijuedisch. Dies zeigte sich besonders in dem antimodernen
Topos "deutscher Kultur". Diese versprach die voellig fehlende
Realitaet einer Einheit zu kompensieren. "Deutsche Kultur" war ein
gegen Frankreich und die Juden gerichtete Kampfbegriff. "Deutsche
Kultur", das hiesst Bodenstaendigkeit, Verwurzelung, hoechste Werte
beinhaltend, waehrend die franzoeische und juedische Kultur kuenstlich,
raesonierend und oberflaechlich, wurzellos dargestellt wurde. Bis hin
zur Weimarer Republik entwickelte sich die deutsche Nationskonzeption
in der Form, dass die Homogenisierung durch Feinderklaerung und
Naturalisierung des Volkes oder Ethnisierung der Politik betrieben
wurde. Dies ist etwas speziell Deutsches, das auf die in der
nationalistischen Ideologie prinzipiell innewohnende Dynamik
verstaerkend einwirkte.
Diese Tendenzen finden sich auch in Frankreich, auch hier haben wir
identitaere Tendenzen, die kontrafaktische Behauptung einer
Gemeinschaft, konstitutiv begleitet vom Auschluss und Bekaempfung von
Feinden, wozu allerdings der Adel und Klerus als innerer Feind
hinzutrat, so dass die Entwicklung nicht so krass war wie in
Deutschland. Der Hauptfeind waren die Privilegierten, ueber die Sieyes
so herzog wie deutsche Neonazis ueber Asylanten.
In Deutschland konnte ein Feind zwei Fliegen mit einer Klappe
schlagen, sie konnte als innerer wie aeusserer Feind fungieren - noch
in Hitlers "Mein Kampf" ist das so, dass er ueber die Zionisten
herzieht - die Juden galten als "Nation in der Nation". Die
zufaelligen Umstaende der Geschichte hatten die Juden dazu
praedestiniert fuer Deutschland die Funktion des anwesenden Anderen zu
erfuellen, deren die Gemeinschaftsvorstellung zur Grenzziehung,
Homogenisierung und Stabilisierung bedarf. Die christliche
antijudaistische Tradition per definitionem - die Christen mussten
sich von der Gruppe absetzen, aus deren Verrat sie sich entwickelt
hatten - hatte hier ihren Beitrag, viele Antisemiten waren Prediger,
man denke an Stoecker und Lueger. Die Juden waren die "religioes
Anderen" zu denen traditionell eine Grenze gezogen war, sie waren
sozial, rechtlich, raeumlich und sichtbar gekennzeichnet ausgegrenzt
gewesen. Gerade ihr Unsichtbarwerden in Emanzipation und Assimilation
drohte die Gemeinschaftsvorstellung von "Volk" und "Nation" zu
zerstoeren. Schon lange vor dem dezidiert biologistisch-rassistisch
sich begruendenden Antisemitismus predigte man eine grundsaetzliche,
unaufhebbare Fremdheit zwischen Deutschen und Juden. Die oekonomische
antisemitische Argumentation, stand in den Anfaengen noch nicht im
Vordergrund, das galt erst im spaeten 19. Jh. Es ging nicht nur um die
Abwehr der Gleichstellung der Juden, die durch den Code Napoleon
gebracht wurde. Intellektuelle wie J.F. Fries - gegen den Hegel
seinen Antisemitismus aufgab, vor der Hetze erschaudernd, vgl.
Rechtsphilosophie Einleitung - nutzen die Juden als "inneren Feind"
zur Konstitution des deutschen Volkes. Friedrich Ruehs brachte das
drastisch zum Ausdruck: "Jedes Volk, das sich in seiner
Eigentuemlichkeit und Wuerde zu behaupten und zu entwickeln wuenscht,
muss alle fremdartigen Theile, die es nicht innig und ganz in sich
aufnehmen kann, zu entfernen und auszuscheiden suchen, dies ist der
Fall mit den Juden."(Friedrich Ruehs, Ueber die Ansprueche der Juden an
das deutsche Buergerrecht. Mit einem Anhang ueber die Geschichte der
Juden in Spanien, Berlin 1816 S. 32)
Durch das 19. Jh zieht sich die Bezeichnung der Juden als Fremdlinge
durch. Der Erfinder des Wortes Antisemitismus Wilhelm Marr spricht
immer noch von "fremdem Volksstamm", "semitischer Fremdling",
"fremdes Volkselement", "semitische Race" und "Staat im Staate".
(Marr, Der Sieg des Judentum ueber das Germanenthum, Berlin 1879, S.
11, 20, 22, 32, 43). Besonders die assimilierten Juden gerieten ins
Fadenkreuz der Antisemiten, weil ihre Existenz die behauptete
unueberwindbare Differenz in Frage stellte und damit die simulierte
Identitaet in der Gemeinschaftsvorstellung deutscher "Nation". Und so
galten die orthodoxen Juden, die religioesen Juden als die geringere
Gefahr: Wilhelm Marr Er wendet sich strikt gegen den traditionellen
Antisemitismus: "Gegen jede »religioese« Verfolgung nehme ich somit
die Juden unbedingt in Schutz."a.a.O.
Heinrich - "Die Juden sind unser Unglueck" - Treitschke schrieb sodenn
auch: "Wer...behauptet, das Judenthum sei genau in demselben Sinne
deutsch wie das Christentum, der versuendigt sich."(Heinrich von
Treitschke, Herr Graetz und sein Judentum, in: Walter Boehlich, Der
Antisemitismusstreit, Frankfurt 1965 S. 86) Auf der einen Seite
forderte Treitschke die totale Assimilation "unser juedischen Buerger"
sollen sich "rueckhaltlos entschliessen Deutsche zu sein", auf der
anderen hielt er die "vollstaendige Verschmelzung fuer unmoeglich. (a.a.O
S. 12 S. 36)
Schliesslich mussten ja unter Hitler dann die Juden gelbe Sterne
tragen, damit ja keine Vermischung droht. Denn Deutschsein benoetigt
die Abgrenzung gegen Juden. Dies wurde als deutscher Sozialcharakter
verinnerlicht, so sehr, dass selbst der Kreis der Hitlerattentaeter
Antisemiten blieben.
Fortsetzung... in Teil 2
mfg Martin Blumentritt <http://www.comlink.de/cl-hh/m.blumentritt>
Aus dem Woerterbuch der Unmenschen:
_Faschismuskeule_: Wie das Wort schon sagt, ein Wort, das
signalisiert, dass man Aehnliches verfolgen, sich aber durch
die Erinnerung an Auschwitz dabei nicht stoeren lassen will.