Ralf Joerres
2020-04-27 08:12:34 UTC
In diesen unsicheren Zeiten ist es beruhigend, zu hören, dass alle
Verantwortlichen ständig beteuern, 'auf Sicht zu fahren'. Stellen wir uns das
als Nachtfahrt mit kaputten Scheinwerfern vor. Das Bild ist ausbaufähig: Vorne
der stressgeplagte Papa, der trotzdem nicht das Gaspedal durchtreten kann,
nur damit das Dauergequengel von der Rückbank endlich aufhört, dieses ewige
'Papa wann sind wir endlich da? Du hast doch gesagt, die Fahrt dauert sieben
Stunden, und jetzt sitzen wir schon 2 Tage in dieser gottverdammten
Blechbüchse!'
Die Kinder, das wären in diesem Fall Leute wie Herr Lindner, die zwar auch
nicht wissen, was hinter der nächsten Kurve kommt, nicht mal, ob da überhaupt
eine Kurve ist, die aber wohl lieber in einem zerbeulten Auto ankommen
als dieses Schritttempo noch eine Minute länger fortsetzen. Das Gaspedal sind
die berühmten 'Lockerungen', von denen jetzt alles spricht. Das Navi ist
nutzlos, weil Straßenverläufe sich plötzlich auf unvorhergesehene Weise ändern
können. Benzin hätten wir genug im Tank (die ruhenden Kapazitäten der deutschen
Wirtschaft), aber das nützt in dieser Situation wenig. Und die 'Sicht' kann man
sich als eine flackernde Funzelbeleuchtung der Virologen in diesem schwarzen
Loch vor uns vorstellen. Dass das Radio permanent dahindudelt, ist auch keine
Hilfe, die Radioleute sind sich zwar weitgehend einig, dass Langsam-Fahren das
Gebot der Stunde ist. Sie wissen auch: Das will keiner mehr hören, alle wollen
nur noch ankommen, aber ein anderes Programm haben sie nicht, was auch nicht
zur Gemütlichkeit beiträgt - ständig im Stop-and-Go unterwegs zu sein und dabei
den lieben langen Tag zu hören: Mehr als Stop-and-Go ist nicht drin. Die
Tochter auf der Rückbank konzentriert sich derweil auf ihre social media, dort
findet man allerlei zum Thema 'Langsamfahren bringt nichts', das möchte die
Prinzessin gerne ausdiskutiert haben.
Und die Mutti? Mutti sagt, das gibt's nichts zu diskutieren, wir tun hier das
einzig Vernünftige und dabei bleibt's, basta. Sie hat die Hand an der
Handbremse, für alle Fälle, und sie hat reichlich Knabberzeug dabei (Finanz-
Spritzen), immer wenn es hinten zu bunt wird, wirft sie eine Tüte nach hinten,
dann sind sie hinten erst mal wieder beschäftigt (diskutieren, Anträge
stellen).
…
So viel auf Sicht gefahren wie derzeit wurde nie. Von der Altkleiderbranche
über die Kirchen bis zu den Zulieferbetrieben der Automobilindustrie, alle
bedienen sich der Floskel, wenn sie sagen wollen, es laufe nicht so wie
gewohnt. Ein solches Sprachbild, einmal ins Spiel gebracht, wirkt wie ein
Magnet und zieht alle ähnlich gelagerten Kommunikationsbedürfnisse an. Die sind
ja auch überreichlich vorhanden, der Krisenmodus hat alles und alle im Griff.
Die Sprach-Epidemiologen sind allerdings weniger 'gut aufgestellt' als die
medizinischen und konnten das Wuhan von 'auf Sicht fahren' nicht ausmachen. Es
kann gut eine Politikeräußerung gewesen sein. Dabei war 'auf Sicht fahren' nie
ganz weg, es wurde in einer kleinen Reproduktionsrate unter Journalisten und
Entscheidern über die letzten Jahrzehnte weitergereicht. Aktuell ist es ein
Super-Spreader.
Eigentlich hat dieses Auf-Sicht-fahren etwas von dem, was Klimaschützer
fordern: die Wirtschaft herunterzufahren, um das Fernziel nicht aus den Augen
zu verlieren. Wenn wir jetzt notgedrungen auf Sicht fahren, dann haben wir das
wohl in der Vergangenheit nicht getan, sondern brausten wildvergnügt immer
höheren CO2-Konzentrationen entgegen. So kann die Coronakrise ein Lehrstück
dafür werden, was auf uns zukommt, wenn es mal richtig dicke kommt mit dem
Klimawandel. Vielleicht bekommen wir dieses Jahr mit einem weiteren sich
abzeichnenden Dürresommer eine neuerliche Kostprobe davon, was uns erwartet.
Naja, uns nicht mehr, 'nur' unsere Enkel.
…
Ähnlich vermehrungsfreudig verhält sich momentan das Verb 'wegbrechen'. Ich
sehe vor meinem geistigen Auge den Eisbären, der peu à peu seine angestammten
Eisschollen unter den Füßen verliert. Da schließt sich für mich der Kreis: Wir
haben zu spät angefangen, auf lange Sicht zu fahren, und jetzt brechen uns an
vielen Ecken und Enden langsam aber stetig die Lebensgrundlagen weg.
Gruß Ralf Joerres
Verantwortlichen ständig beteuern, 'auf Sicht zu fahren'. Stellen wir uns das
als Nachtfahrt mit kaputten Scheinwerfern vor. Das Bild ist ausbaufähig: Vorne
der stressgeplagte Papa, der trotzdem nicht das Gaspedal durchtreten kann,
nur damit das Dauergequengel von der Rückbank endlich aufhört, dieses ewige
'Papa wann sind wir endlich da? Du hast doch gesagt, die Fahrt dauert sieben
Stunden, und jetzt sitzen wir schon 2 Tage in dieser gottverdammten
Blechbüchse!'
Die Kinder, das wären in diesem Fall Leute wie Herr Lindner, die zwar auch
nicht wissen, was hinter der nächsten Kurve kommt, nicht mal, ob da überhaupt
eine Kurve ist, die aber wohl lieber in einem zerbeulten Auto ankommen
als dieses Schritttempo noch eine Minute länger fortsetzen. Das Gaspedal sind
die berühmten 'Lockerungen', von denen jetzt alles spricht. Das Navi ist
nutzlos, weil Straßenverläufe sich plötzlich auf unvorhergesehene Weise ändern
können. Benzin hätten wir genug im Tank (die ruhenden Kapazitäten der deutschen
Wirtschaft), aber das nützt in dieser Situation wenig. Und die 'Sicht' kann man
sich als eine flackernde Funzelbeleuchtung der Virologen in diesem schwarzen
Loch vor uns vorstellen. Dass das Radio permanent dahindudelt, ist auch keine
Hilfe, die Radioleute sind sich zwar weitgehend einig, dass Langsam-Fahren das
Gebot der Stunde ist. Sie wissen auch: Das will keiner mehr hören, alle wollen
nur noch ankommen, aber ein anderes Programm haben sie nicht, was auch nicht
zur Gemütlichkeit beiträgt - ständig im Stop-and-Go unterwegs zu sein und dabei
den lieben langen Tag zu hören: Mehr als Stop-and-Go ist nicht drin. Die
Tochter auf der Rückbank konzentriert sich derweil auf ihre social media, dort
findet man allerlei zum Thema 'Langsamfahren bringt nichts', das möchte die
Prinzessin gerne ausdiskutiert haben.
Und die Mutti? Mutti sagt, das gibt's nichts zu diskutieren, wir tun hier das
einzig Vernünftige und dabei bleibt's, basta. Sie hat die Hand an der
Handbremse, für alle Fälle, und sie hat reichlich Knabberzeug dabei (Finanz-
Spritzen), immer wenn es hinten zu bunt wird, wirft sie eine Tüte nach hinten,
dann sind sie hinten erst mal wieder beschäftigt (diskutieren, Anträge
stellen).
…
So viel auf Sicht gefahren wie derzeit wurde nie. Von der Altkleiderbranche
über die Kirchen bis zu den Zulieferbetrieben der Automobilindustrie, alle
bedienen sich der Floskel, wenn sie sagen wollen, es laufe nicht so wie
gewohnt. Ein solches Sprachbild, einmal ins Spiel gebracht, wirkt wie ein
Magnet und zieht alle ähnlich gelagerten Kommunikationsbedürfnisse an. Die sind
ja auch überreichlich vorhanden, der Krisenmodus hat alles und alle im Griff.
Die Sprach-Epidemiologen sind allerdings weniger 'gut aufgestellt' als die
medizinischen und konnten das Wuhan von 'auf Sicht fahren' nicht ausmachen. Es
kann gut eine Politikeräußerung gewesen sein. Dabei war 'auf Sicht fahren' nie
ganz weg, es wurde in einer kleinen Reproduktionsrate unter Journalisten und
Entscheidern über die letzten Jahrzehnte weitergereicht. Aktuell ist es ein
Super-Spreader.
Eigentlich hat dieses Auf-Sicht-fahren etwas von dem, was Klimaschützer
fordern: die Wirtschaft herunterzufahren, um das Fernziel nicht aus den Augen
zu verlieren. Wenn wir jetzt notgedrungen auf Sicht fahren, dann haben wir das
wohl in der Vergangenheit nicht getan, sondern brausten wildvergnügt immer
höheren CO2-Konzentrationen entgegen. So kann die Coronakrise ein Lehrstück
dafür werden, was auf uns zukommt, wenn es mal richtig dicke kommt mit dem
Klimawandel. Vielleicht bekommen wir dieses Jahr mit einem weiteren sich
abzeichnenden Dürresommer eine neuerliche Kostprobe davon, was uns erwartet.
Naja, uns nicht mehr, 'nur' unsere Enkel.
…
Ähnlich vermehrungsfreudig verhält sich momentan das Verb 'wegbrechen'. Ich
sehe vor meinem geistigen Auge den Eisbären, der peu à peu seine angestammten
Eisschollen unter den Füßen verliert. Da schließt sich für mich der Kreis: Wir
haben zu spät angefangen, auf lange Sicht zu fahren, und jetzt brechen uns an
vielen Ecken und Enden langsam aber stetig die Lebensgrundlagen weg.
Gruß Ralf Joerres