H_Schenke (***@arcor.de) schrieb
am 25.05.05 um 00:46 in /de/soc/politik/misc
Post by Hartmut SchenkePost by Martin BlumentrittDumm sind solche Thesen 1. weil der IQ etwas mißt, was er als
"Intelligenz" bezeichnet, was das aber ist, wird dahingehend
bestimmt, daß das das ist, was der IQ mißt. Dies aber ist ein
tautologisches Begründungsverhältnis.
2. wird keine Theorie über das WAS der Intelligenz und das Werden
der Intelligenz aufgestellt, was zur Folge hat, daß gar nicht mehr
beurteilt werden kann, ob das, was gemessen wird, überhaupt mit der
Wirklichkeit etwas zu tun hat.
3. der IQ etwas mißt, was den Potenzen der Mittel- und Oberschicht
der Metropolen entspricht. Ein impliziter Rassismus ist bereits
enthalten.
Alles grundsätzlich richtig. Ohne 1. Welt-Ausbildung/Bildung gibt es
keine guten Ergebnisse bei den gängigen Intelligenztests.
Ach ja, Gedächtnisleistungen spielen dabei auch eine Rolle.
Deswegen stimmt die Tautologie, nach der Intelligenz das ist, was man
mit Intelligenztests messen kann.
Beeindruckend. ;-)
Diese Defizite der Intelligenztheorien wurden schon früher
untersucht. Welche ideologischen Grundlagen das hat, denen Pornogorno
aufsitzt, kann man aus dem Folgenden sehr genau entnehmen und schon
steht dieser nackt da.
_Intelligenztheorien_
_Zusammenfassung und Schlußfolgerungen zu Forschungsergebnissen_
_zum Anlage-Umweltproblem_
Der Schlüssel zum Verständnis zweckmäßigen (intelligenten) Verhaltens
des Menschen liegt weder allein in seiner biologischen Natur
(Vererbung) noch allein in seinen äußeren Lebensbedingungen. Sein
Verhalten unterliegt sowohl biologischen Bestimmungen als auch
Einflüssen der materiellen und sozialen Umwelt. Jeder Versuch, den
Menschen und sein Verhalten allein aus einer biologischen Natur
heraus oder als reines Produkt der Erfahrung zu beschreiben, mündet
in eine Sackgasse.
Die Vererbungsgesetze spielen allerdings im menschlichen Bereich eine
ganz andere Rolle als im tierischen. Sie legen weder die Richtung
noch die Inhalte der Verhaltensentwicklung fest, sondern bilden
lediglich spezifische dafür erforderliche organische Voraussetzungen.
Inhalt und Richtung der psychischen und damit auch im besonderen der
intellektuellen Entwicklung werden im wesentlichen durch aktive
Auseinandersetzung mit der Lebenswelt realisiert.
Dies zeigt sich sehr deutlich am Beispiel der Sprache, eines
zentralen Prozeßaspektes intellektueller Abläufe und Entwicklung. Der
Mensch ist dazu in der Lage, die menschliche Sprache zu erwerben -
aufgrund bestimmter, im Laufe seiner Evolutionsgeschichte erworbener
Hirnstrukturen und bestimmter unbedingt-reflektorischer Mechanismen
des Zentralnervensystems. Diese Strukturen und Mechanismen enthalten
jedoch noch keineswegs die Inhalte, die Regeln der je
gruppenspezifischen Sprache, ebensowenig die mit der Sprache
verbundenen Gedanken. Sie alle werden erst im Laufe eines
individuellen "Aneignungsprozesses" erworben. Die konkrete Sprache
ist nicht im Erbgut verankert, sondern Produkt von jahrtausendelanger
menschlicher Überlieferung, Erfahrung und Sprachdifferenzierung.
Sprache ist demnach zugleich das Produkt eines bestimmten
hirnorganischen Entwicklungsstandes wie der
historisch-gesellschaftlichen Entwicklung.
Die biologische Natur des Menschen und Umwelterfahrung bzw.
gesellschaftliche Grundlage der menschlichen Existenz bilden keine
Gegensätze, ebensowenig nebeneinanderstehende Einflußbereiche,
sondern verschiedene Entwicklungslinien eines einheitlichen
Prozesses, die im Laufe der individuellen Entwicklung
ineinandergreifen. Die soziale Entwicklung baut auf den biologischen
Grundlagen auf und ist erst durch die biologische Natur des Menschen
möglich.
Die Wurzeln des menschlichen Verhaltens reichen sowohl in
biologischer als auch in sozialer Hinsicht sehr weit in die
Vergangenheit der Menschheit zurück, gehen über die Grenzen des
individuellen Lebens und Organismus weit hinaus. Eine Analyse des
Intelligenzproblems erfordert daher zwangsläufig eine historisch und
sozial orientierte Betrachtungsweise.
Vor allem im Hinblick auf seine historisch-gesellschaftliche
Situation unterscheidet sich der Mensch fundamental vom Tier. Zwar
müssen auch die meisten Tiere, um lebensfähig zu sein, eine Menge
Lernprozesse durchmachen; tierisches Lernen beschränkt sich im
wesentlichen aber auf eine Optimierung der Strategien der Anpassung
an die vorgegebene Umwelt. Die individuell gespeicherten Erfahrungen
und Anpassungsmuster gehen der Art mit dem Tod des Individuums
weitgehend verloren. Denn Tiere schaffen keine Kultur, besitzen
keine Kommunikationsmöglichkeiten im Sinne der menschlichen Sprache,
objektivieren ihre Erfahrungen nicht oder nur in sehr begrenztem
Maße. Auf diese Weise gibt es bei Tieren auch so gut wie keine von
Generation zu Generation kumulierende Erfahrung. Dafür verfügen
Tiere aber über ein ausgeprägtes und "sicheres" Instinktsystem, das
ihnen allerdings enge Grenzen der Verhaltensänderung setzt.
Die biologische Ausstattung spielt dementsprechend bei Tieren eine
verhältnismäßig größere Rolle als beim Menschen. Seine
Verhaltensstruktur unterscheidet sich von der des Tieres durch seine
"offenen" Verhaltensprogramme, durch seine enormen Lernmöglichkeiten
und vor allem durch seine aktive Veränderung und Gestaltung der
Lebenswelt. Indem der Mensch Kultur hervorbringt, objektiviert er
seine Erkenntnisse, Erfahrungen in Gegenständen, in der Sprache, in
bleibenden Kulturwerten, deren Bedeutungen sich für die Verbesserung
der menschlichen Lebenspraxis über die Generationen addieren. Der
heranwachsende Mensch lernt auf diese Weise weniger durch Versuch und
Irrtum individualisierter Erfahrungen, sondern im wesentlichen durch
Aneignung des historisch-gesellschaftlichen Erfahrungsgutes und durch
dessen aktive Weiterentwicklung. Entsprechend hängt die individuelle
menschliche Entwicklung im Unterschied zum Tier weniger von den
ererbten Programmen ab als vom Stand der gesellschaftlich-
historischen Entwicklungsstufe. Zur biologischen Vererbung ist somit
beim Menschen eine weitere Form der "Vererbung" hinzugetreten: die
soziale oder gesellschaftliche Vererbung.
In den letzten zehntausend Jahren hat sich der Mensch in genetischer
Hinsicht allem Anschein nach so gut wie nicht mehr verändert. Der
Mensch der Steinzeit könnte ebensogut in der Gegenwart leben und
würde sich im Prinzip nicht von den Menschen unserer Zeit
unterscheiden. Umgekehrt könnte sich der moderne Mensch, hätte er
die Gegenwart nicht kennengelernt, reibungslos in die Steinzeitkultur
eingliedern. Derselbe Mensch würde in dem einen Fall sich das
moderne nüchterne und naturwissenschaftlich geprägte Denken aneignen,
im anderen Fall der Magie und dem Okkultismus der Steinzeitkultur
erlegen sein.
Verschiedene Kulturstufen bringen ganz unterschiedliche Denk- und
Bewußtseinsstrukturen hervor - bei unveränderter genetischer Natur
des Menschen. Die Besonderheiten der menschlichen psychischen
Entwicklung, die ihn vom Tier unterscheiden, sind somit weniger das
Produkt seiner Anlagen als seines eigenen Handelns, seiner aktiven
Umgestaltung der materiellen Lebenswelt. Indem die Menschen Kultur
schaffen, Erfahrungen austauschen und vergegenständlichen, Ziele
gemeinsam planen und durchfuhren, eröffnen sich ihnen immer neue
Entwicklungsperspektiven. Indem der Mensch Kultur hervorbringt,
besteht sein Verhalten nicht mehr nur wie beim Tier aus individuellen
Anpassungsleistungen, sondern zunehmend auch aus konstruktiven,
schöpferischen Aktivitäten, auf deren Grundlagen sein Denken und
seine Fähigkeiten immer differenziertere und höhere Stufen erreichen.
Die Fähigkeiten, die der moderne Mensch zur Aufrechterhaltung und
Fortentwicklung des gegebenen Kulturniveaus benötigt, sind das
Produkt jahrtausendelanger Kulturgeschichte und menschlicher Arbeit.
Allgemein verbreitete Fähigkeiten (wie Lesen und Schreiben), die
heute selbstverständlich sind, waren vor wenigen tausend Jahren das
Privileg einer kleinen Elite. Dieser Sprung der
Fähigkeitsentwicklung ist nur auf der Grundlage der
gesellschaftlichen Produktion und der dadurch ermöglichten und
notwendig gewordenen Verbesserung der menschlichen Bildung
verstehbar.
Jedes neugeborene menschliche Wesen beginnt nicht bei einem Zustand
Null, sondern macht stets die Erfahrungen, die für eine bestimmte
Kulturstufe kennzeichnend sind. Der Schlüssel zum Verständnis
menschlicher Fähigkeiten liegt somit weniger im einzelnen Menschen
selbst als in den grundlegenden Strukturen gesellschaftlicher
Lebenserhaltung, in der im Laufe der Geschichte vorangetriebenen
Naturbeherrschung, in den Prinzipien und Formen kooperativen und
arbeitsteiligen Schaffens. Um zum Mechanismus individueller
Verhaltensbestimmung vorzudringen, muß man über die Grenzen des
einzelnenindividuums hinausgehen, seine Bezüge zur sozialen Umwelt,
zur gesellschaftlichen Produktion aufarbeiten, seine reale Aktivität
und deren Einbettung in bestehende Produktions- und soziale
Handlungszusammenhänge nachvollziehen und analysieren. Ohne diesen
Rückbezug individuellen Verhaltens auf überindividuelle Gegebenheiten
besteht die Gefahr, die tatsächliche Determination des Verhaltens zu
verfehlen, sie fälschlicherweise "im" einzelnen Menschen selbst zu
suchen: was de facto Produkt eines gesellschaftlichen arbeitsteiligen
Prozesses ist (z.B. der Gegensatz von praktischer und theoretischer
Begabung), als nicht weiter rückführbare individuelle Faktoren zu
mißdeuten.
Der Aufstieg des Menschen aus dem Tierreich und die Entwicklung der
heute zu findenden menschlichen Fähigkeiten sind der Prozeß der
Ansammlung von Erfahrungen im Umgang mit der Natur, von Erfahrungen
im Umgang mit anderen Menschen, die arbeitsteilig auf die Umwelt
einwirken. Den entscheidenden Impuls erfuhr die kulturelle
Entwicklung durch das Aufkommen der gesellschaftlichen
Arbeitsteilung. Sie schuf die Grundlage dafür, daß sich Menschen
bestimmten Teilbereichen der Wirklichkeit, der menschlichen
Lebenserhaltung und -verbesserung intensiver als sonst widmen
konnten. Sie ermöglicht die Herausbildung eines hohen
Perfektionsgrades im Umgang mit ganz bestimmten Aspekten und
Ausschnitten der menschlichen Arbeit und damit die Formung spezieller
Fähigkeiten und Fertigkeiten, die im biologischen Programm nur als
Möglichkeit und nicht als konkrete Bestimmung bereits enthalten sind.
Gesellschaftliche Arbeitsteilung ging in der Geschichte fast immer
mit einer fortschreitenden Hierarchisierung der Teilfunktionen und
damit einer Differenzierung in leitende und ausführende Funktionen
einher. Erst die Zusammenfassung vieler zerstreuter Teilkräfte unter
einem gemeinsamen Ziel (zentralisierte Macht) ermöglichte rasche
kulturelle Hochleistungen, führte zur Herauskristallisierung einer
"geistigen Elite". Die Aufteilung der Arbeitsfunktionen und die
damit einhergehende soziale Differenzierung bilden die - höchst
widersprüchliche - Grundsituation menschlichen Fortschritts und der
Herausbildung höherer menschlicher Fähigkeiten. Hierarchisierung der
Arbeit führt allemal zu einem Gegensatz von Überordnung und
Unterordnung, von Macht und Machtlosigkeit, von Überlegenheit und
Hilflosigkeit. Dieser Gegensatz prägt alle Phasen menschlicher und
gesellschaftlich-historischer Entwicklung seit den
Sklavenhaltergesellschaften. Kulturelle Hochleistungen kamen in der
Geschichte fast immer dadurch zustande, daß eine Mehrheit sich den
Plänen einer leitenden und "wissenden", von der Mehrheit miternährten
Elite mehr oder minder unfreiwillig unterordnete.
In einer hierarchisch gegliederten sozialen Ordnung haben
insbesondere die Vertreter der oberen Ränge die Möglichkeit, sich
"höheren" Aufgaben zu widmen, "höhere" Fähigkeiten zu entwickeln.
Die Mitglieder an der Gesellschaftsbasis sind dagegen je nach Stand
der gesellschaftlichen Entwicklung an mehr oder minder gleichförmiges
entfremdete, kräfteraubende, unperspektivische Tätigkeiten gekettet,
die ihnen wenig intellektuellen und schöpferischen Spielraum bieten.
Im Laufe der historischen Entwicklung scheint der Gegensatz zwischen
dem Maß an intellektuellen Anforderungen zwischen den oberen und
unteren Rängen in der Produktionshierarchie nicht kleiner, sondern
sogar größer geworden zu sein.
In dem Maße beispielsweise, wie die Wissenschaft sich in den
Arbeitsprozeß einschaltete, sich besondere Planungs- und
Entwicklungsabteilungen in der Industrie herausbildeten, wurde auf
der untersten Basis die Arbeit immer weiter vereinfacht (s.
Fließband), um die Anlernzeiten fiir eine bestimmte Arbeit minimal zu
halten, um in einem speziellen Tätigkeitsbereich eine extrem hohe
Perfektion zu realisieren - auf Kosten der Beteiligung an der
Gesamtplanung der Produktion und des Gesamtüberblicks.
Unter diesen Bedingungen von "Produktionsökonomie " vollzieht sich
die Fähigkeitsentwicklung sehr widersprüchlich. Eine "allseitige"
Entwicklung der menschlichen Fähigkeiten für alle
Gesellschaftsmitglieder ist in diesem Fall kaum möglich. Die extrem
arbeitsteilige Produktion begünstigt vielmehr die Entwicklung von
Teilfertigkeiten, die um so weniger "intellektuellen" und
schöpferischen Inhalt haben, je niedriger jemand in der
Produktionshierarchie steht. Je ausgeprägter die Zentralisierung der
Produktion, desto krasser ist der Gegensatz zwischen Leitenden und
Führenden, zwischen den auf "höherer" Produktionsebene erforderlichen
Fähigkeiten und den an der Produktionsbasis abverlangten Funktionen.
Die Ökonomie der Arbeitsteilung ging in der Geschichte und geht noch
heute so weit, daß die fortschreitende Fähigkeitsentwicklung
zumindest eines Teils der Gesellschaft blockiert wird. Unter den
Evolutionsbedingungen, die erst die organischen Voraussetzungen der
Menschwerdung schufen, brauchte der Mensch ein hohes Maß an
Erkundungsverhalten, wurden seine Sinne in vielfältiger und ständig
wechselnder Weise beansprucht. Der Mensch ist bereits von seiner
biologischen Natur her darauf ausgerichtet, seine Umwelt zu erkunden,
Gleichförmigkeiten aus dem Wege zu gehen. Dieses Bedürfnis liefert
auch in der Gegenwart eine wichtige Prozeßbedingung der
fortschreitenden Entwicklung seiner Intelligenz.
Viele Arbeitsbedingungen in der Geschichte wie in der Gegenwart
widersprechen diesem Bedürfnis jedoch und hemmen auf diese Weise die
Denkentwicklung und die Motivation des Menschen. Motivation und
Erkenntnisentwicklung bilden ursprünglich eine Einheit: Die Erkundung
der Umwelt und die schöpferische Betätigung bilden ein wesentliches
Bedürfnis des Menschen, das nicht unmittelbar an primäre biologische
Notwendigkeiten gebunden, aber dennoch von hohem biologischem und
sozialem Wert ist. Die Bedeutung des Erkundungsmotivs erschöpft sich
nicht in der Tätigkeit selbst, sondern hat perspektivischen
Charakter: Es ermöglicht und fördert die Erkenntnis von der Welt.
Indem der Mensch mit den Gegenständen der Umwelt umgeht, auf sie
einwirkt, sie umgestaltet, sie seinen Bedürfnissen anpaßt, vollzieht
sich die Erkenntnis der Wirklichkeit, bekommt er Einblick in die
Gesetze der Natur, entfalten sich seine Fähigkeiten.
Wird der Tätigkeitsbereich jedoch auf einen sehr eingeengten Rahmen
beschränkt, geht dem Menschen unweigerlich die "Breitenerkenntnis"
verloren, erstirbt sein Interesse an der übrigen Umwelt, wird seine
Motivation fortschreitend von Apathie überlagert. Die dominierende
Tätigkeitsstruktur prägt somit seine Persönlichkeitsentwicklung und
sein intellektuelles Verhalten sowie seine gesamten Bezüge zur
Umwelt.
Die Effekte der Arbeit auf die Persönlichkeits- und
Fähigkeitsentwicklung haben somit widersprüchlichen Charakter. Je
höher jemand in der sozialen bzw. Produktionshierarchie steht, desto
eher kann er das gesamte gesellschaftlich erarbeitete Wissen und
Können, das gesellschaftlich-historische Kulturgut für sich selbst,
für seine Erkenntnisentwicklung zunutze machen. Die Menschen an der
Produktionsbasis haben an den "höheren" Erkenntnissen entweder gar
nicht teil, oder sie benutzen lediglich die massenhaft produzierten
Kulturgüter, ohne ihre Funktionsweise zu verstehen oder Einfluß auf
die Planung der Produktion nehmen zu können.
Die spezifischen Effekte der menschlichen Arbeit haben über die
Generationen kumulierende Bedeutung. Sie wirken sich auf Denken,
Verhalten aus, prägen die Erziehungstechniken, die Lebensperspektive.
Für jede "soziale Schicht" entstehen so im Laufe der historischen
Entwicklung charakteristische Denkweisen, Lebensvorstellungen,
Fähigkeiten, motivationale Orientierungen. Für die einen werden so
Ziele wie Gehorsam und Unterordnung wichtig, für die anderen kommt es
dagegen auf Selbstkontrolle und Selbstbestimmung an. Diese
verschiedenen Orientierungsmuster, die Anpassungsstrategien an die
jeweiligen Anforderungen am Arbeitsplatz sind, werden auch den
Kindern abverlangt. So begünstigt beispielsweise das
Orientierungsmuster Gehorsam ein eher restriktives
Erziehungsverhalten, wodurch die perspektivische Ausrichtung und die
Zielorientierung schwer in Mitleidenschaft gezogen werden. Dies
bedeutet Verschüttung der intellektuellen Neugier, des
Experimentierwillens, der Selbstbestimmung, Unterbindung der
Spontaneität und schließlich Apathie. Dort, wo Initiativen gebrochen
werden, Aktivitäten keine Ermutigung, keine Verstärkung und kein
Material zur Erprobung finden, kommt es auch nicht zu Lernprozessen,
kann es keine intellektuelle Weiterentwicklunggeben. Denn
Intelligenz im weitesten Sinne ist die Fähigkeit, mit der Umwelt
wirksam umzugehen; und dies erfordert ihre genaue Kenntnis, die
fortschreitende Gewißheit, auf die Umwelt in wirksamer Weise
einwirken zu können. Jemand, der nicht gelernt hat, wie die Welt
beschaffen ist, welche Seiten sie aufweist, wie sie auf eigenes
Verhalten reagiert, der nie erfahren hat, daß eigenes Verhalten
wirksame Effekte hervorruft, dessen Intelligenzentwicklung stagiüert
unweigerlich.
Umgekehrt fördern Eltern gehobener Schichten in stärkerem Maße die
aktive, erkundende und schöpferische Seite des Verhaltens. Ihr
relativ feinfühliges Eingehen auf die Erkenntnisbedürfnisse des
heranwachsenden Menschen, ihre systematische Ermutigung der
Initiativen des Kindes und ihre umsichtige Gestaltung einer
"Erkundungswelt" liefern die Basis einer optimistischen und
zielorientierten Umweltzuwendung, die sich in hoher intellektueller
Kompetenz niederschlägt.
Erziehung und Erfahrungen am Arbeitsplatz verstärken sich
wechselseitig über die Generationen, führen zur Herausbildung
typischer Sozialcharaktere. Sie tragen ihrerseits zur Verfestigung
der bestehenden sozialen Hierarchie bei, verstärken die Existenz
sozialer Barrieren. Unter diesen Bedingungen verinnerlichen die
Menschen ihre eigene Lage innerhalb des gesellschaftlichen Systems
und die damit verbundenen Erwartungen und Privilegierunuster. Die
einen sehen sich so mehr oder minder unabänderlich als Untertanen,
die anderen als Elite.
Eine so über Generationen verfestigte gesellschaftliche Ordnung
spiegelt sich im Bewußtsein der Menschen als quasi "naturhafte"
Ordnung wider, erscheint als "natürlicher" Zustand. Sie wird als dem
Wesen des Menschen entsprechende Organisationsform und als
unabänderlich angesehen.
Vor allem die Gruppe der Privilegierten besitzt ein vitales Interesse
daran, daß dieses Bewußtsein fest verankert bleibt, daß die
Verhältnisse so bestehenbleiben, wie sie sind. Die privilegierte
Gruppe trägt auf ihre Weise zur Stärkung dieses Bewußtseins bei,
wertet jeden Veränderungsversuch als Sakrileg gegen überkommene,
"heilige" Werte. Ihre Ideologie: Die Schichtung der Gesellschaft
spiegelte die natürlichen bzw. gottgegebenen Fähigkeitsunterschiede
wider. Je fähiger der Mensch sei, desto mehr leiste er für die
Gesellschaft, desto höher rangiere er auf der sozialen Prestigeskala,
desto mehr Privilegien stünden ihm zu.
Die Geschichte lehrt jedoch: Hierarchisierung der gesellschaftlichen
Arbeit enthält allemal die Möglichkeit des Mißbrauchs der Macht, die
Möglichkeit eines Versuchs, die Produkte der gesellschaftlichen
Arbeit im Sinne der Machtverhältnisse zu verteilen und die
bestehenden Verhältnisse um der Erhaltung der Macht und der
privilegierten Position willen mit allen Nütteln zu verteidigen.
Eine unterschiedliche Position innerhalb der Produktionshierarchie
bedeutet in der Tat in der Geschichte immer auch unterschiedliche
Teilhabe an den gesellschaftlich erarbeiteten Gütern. Je höher
jemand in der gesellschaftlichen Hierarchie steht, desto mehr
Privilegien beansprucht er, desto mehr Privilegien werden ihm
zugestanden.
Wer zur Elite, zur Gruppe der "Führenden" zählt, darüber entscheidet
nach der Ideologie der traditionalen Gesellschaft die gottgegebene
Vorsehung. Die Machthaber der vorindustriellen Gesellschaft beriefen
sich auf "göttliches Recht", sie erklärten sich als Stellvertreter
des obersten Weltenherrschers. Sie, so sagten sie, seien die
Auserwählten, die dem gemeinen Volk den Weg zeigen müßten.
Solange die führenden Gruppen wirksame soziale Neuerungsfunktionen
erfüllen, gibt es für die Mitglieder einer Gesellschaf t keinen
Anlaß, an dieser Ideologie zu zweifeln, vor allem so lange nicht, wie
die bestehende Gesellschaftsordnung über lange Zeiträume ausreichend
Stabilität beweist.
Unter den Bedingungen des hochentwickelten Industriekapitalismus
vollziehen sich die historischen Veränderungen jedoch ungleich
stürmischer als in der vorindustriellen Zeit, wird der Wechsel von
Stagnations- und Konjukturphasen zu einer ständig sich wiederholenden
Erscheinungsform. Auf Phasen relativ rascher und weitgreifender
Umwälzungen im Bereich der Produktion, des Konsums und damit auch des
Denkens und des Bewußtseins folgen Phasen der Konsolidierung, der
inneren Erstarrung, der Verkrustung, der tendenziellen Wiederbelebung
traditioneller Denk- und Lebensformen.
Die kapitalistische Organisation lebt dennoch insgesamt gesehen von
Expansion, von zeitweiligen "Neuerungsschüben" sozialer und
technologischer Art, von ständiger innerer Erneuerung, von Zerstörung
bzw. Entwertung auf der einen Seite und schöpferischer Gestaltung auf
der anderen. Werden die historisch "fälligen" Neuerungsschübe von
konservativen Kräften allzu sehr aufgehalten, so treten die
Entwertungsprozesse überholter sozialer und produktiver Strukturen
schließlich in einem bestimmten Abschnitt konzentriert auf: in der
"Krise". Die Krise ist somit der Ausdruck relativ plötzlicher
Entwertung von Strukturen, die man über eine bestimmte Zeit hinaus
entgegen den historischen Erforderriissen aufrechtzuerhalten versucht
hat. Auf diese Weise wird der Übergang in die neue historische
Epoche um so deutlicher.
Die kapitalistische Gesellschaft enthält somit eine Vielzahl
dynamischer Kräfte, die alle einen spezifischen Beitrag zur
Aufrechterhaltung bzw. zur historisch notwendigen Weiterentwicklung
beisteuern. Auf der einen Seite gibt es dynamische, auf
Weiterentwicklung, z. T. sogar auf "Umwälzung" drängende Kräfte. Sie
betonen den historischen und produktiven Charakter der menschlichen
Existenz. Auf der anderen Seite finden sich traditionelle
Strömungen, die um Konsolidierung der gegebenen Kräfte bemüht sind.
Sie werden vor allem von den etablierten Gruppen repräsentiert, die
überdurchschnittlich an den Privilegien der Gesellschaft teilhaben.
Sie möchten das Rad der Geschichte nach Möglichkeit stillhalten, denn
historische Veränderungen bergen die Gefahr des Statusverlustes,
einer Verschärfung der Konkurrenzlage in sich. Konservative und
etablierte Vertreter berufen sich entsprechend auch bevorzugt auf den
Gedanken der natürlichen Ordnung der Dinge, auf das unabänderliche
Oben und Unten innerhalb einer Gesellschaftsordnung, auf die
traditionellen Werte. Sie gewinnen gegenüber den auf Veränderung und
Weiterentwicklung drängenden Kräften in dem Maße an Einfluß, wie die
Zeichen der Zeit auf Konsolidierung gestellt sind.
Die Vertreter der um Weiterentwicklung und dynamische Veränderung
bemühten Kräfte sehen den Menschen dagegen in seinen
Veränderungsmöglichkeiten, in seinen realen Entwicklungsperspektiven.
Sie verfolgen demgemäß einen optimistischen Ansatz vom Menschen,
verstehen ihn weniger von seinen biologischen Beschränkungen her als
von seinen potentiellen Handlungen, die weder vorprogrammiert noch
rein individuell bestimmt, sondern in einen sozialen Zusammenhang
eingebettet sind, der historischen Veränderungen unterliegt.
Beide Strömungen - traditionelle konservative Ideologie auf der einen
Seite und dynamische, auf Weiterentwicklung des Systems drängende
Impulse auf der anderen Seite - sind keineswegs unvereinbare
Gegensätze, sondern notwendige Komponenten des ideologischen Überbaus
des dynamischen kapitalistischen Systems. Beide tragen in
spezifischer Weise zum Funktionieren des gesamten Apparates bei. Die
eine Position spiegelt die dynamische Weiterentwicklung des Systems
wider, ohne die das System nicht existieren kann. Die andere Position
sichert die historische Kontinuität, die Stabilisierung der
historisch kumulierten Erfahrungen und Strukturen. Beide bringen
allerdings nur Teilaspekte der gesellschaftlichen Strömungen zum
Tragen und bergen bei einseitiger Betonung und Akzentuierung die
Gefahr der Wirklichkeitsverzerrung in sich.
Die ideologischen Strömungen machen mit der historischen Entwicklung
Veränderungen durch. Sie müssen sich den jeweils vorliegenden
historischen Gegebenheiten anpassen, um integrative Funktionen
auszuüben. So kann sich die konservative Ideologie heute nicht mehr
wie in der vorindustriellen Zeit auf "göttliche Vorsehung" berufen.
Das "aufgeklärte" technologische Zeitalter erfordert andere,
rationalere Legitimationsmuster. Dazu gehört u. a. der
Intelligenzbegriff.
Intelligenz, so lautet die traditionelle Auffassung, bilde die
Grundlage des individuellen Erfolgs, den Maßstab der
Leistungsfähigkeit des einzelnen, die Basis seiner Anerkennung in der
Gesellschaft. Wem der "Zufall" (genetische Kombination) besondere
intellektuelle Begabungen beschert habe, der könne auch der
Gesellschaft Kulturprodukte bescheren und den allgemeinen Wohlstand
der Gesellschaft vermehren helfen, die menschliche Lebenspraxis
bereichern, verschönern und erleichtern. Daher stünden ihm auch
besondere Belohnungen zu. Wer intelligent sei, darüber entscheide in
erster Linie die Natur selbst. Intelligenz sei vor allem eine Sache
der Vererbung, der biologischen Bedingungen. Es stehe von Geburt an
so gut wie fest, was aus dem Menschen einmal werde. Der von Natur
her Begabte setze sich allemal durch, werde auch bei widrigen
Lebensumständen seinen Weg gehen. Aus den wenig Begabten sei dagegen
auch bei günstigen Bedingungen wenig Beeindruckendes herauszulocken.
Das Bildungssystem habe deshalb vornehmlich die Aufgabe, die Begabten
von den Unbegabten zu trennen, den Begabten alle erdenklichen
Förderungen zukommen zu lassen, da sie bei ihnen auf "fruchtbaren"
Boden fallen würden. Für die Unbegabten, bei denen sich die
Investitionen nur wenig lohnen würden, sei dagegen die
Elementarbildung ausreichend.
Zur Unterstützung dieser Ideologie konstruierte man die Begabung bzw.
die Intelligenz derart, daß man ihre Abhängigkeit von den realen
Lebensbedingungen nicht mehr erkennen kann: als statische Eigenschaft
und abgespalten von den sozialen und motivationalen Bezügen des
Menschen. Die herkömmlichen Intelligenzmodelle beschreiben die
Intelligenz als eine "intellektualistische" Wirkgröße, losgelöst von
der Tätigkeit des Menschen, seinen BedÜrfnissen und
ErfahrungsmÖglichkeiten, und münden deshalb langfristig in eine
Sackgasse.
Die frühe Intelligenzforschung unternahm keine Anstalten, eine
Verbindung von Intelligenz und Erkenntismotivation herzustellen, die
Rolle der (schichtenspezifischen) Erziehung für die intellektuelle
Kompetenz aufzuarbeiten. Soweit man von der "Umwelt" der
Intelligenzentwicklung redete, faßte man die Raster der Umwelt derart
grob, daß sie als Entwicklungsfaktor nicht mehr erkennbar war.
Die herkömmliche Zwillingsmethode, die als Königsweg zur Erforschung
der Bedeutung der Anlagen gilt, bleibt an der Oberfläche der
Phänomene haften, d.h., sie ist nicht in der Lage, den real
ablaufenden Entwicklungsprozeß aufzuschlüsseln. Die
Zwillingsforschung verfolgt darüber hinaus einen mechanistischen und
pessimistischen Ansatz. Sie versucht, die intellektuellen
Unterschiede in mechanischer Form zu zerlegen: in einen Umweltanteil
und in einen genetischen. Sowenig, wie es einen reinen genetischen
Beitrag gibt, gibt es einen reinen Umweltbeitrag. Beide
Entwicklungsfaktoren wirken allemal zusammen, lassen sich im Prinzip
nicht voneinander abgrenzen. Der "Befund", wonach
Intelligenzunterschiede zu 80 % "erblich" sein sollen, ist im
Hinblick auf das Verständnis der Entwicklung der Intelligenz ein
methodisches Kunstprodukt und dient den Erbtheoretikern dazu,
Assoziationen der Unveränderlichkeit der Intelligenz zu wecken.
Die Ergebnisse der traditionellen, höchst unzulänglichen und
fehlerbehafteten Zwillingsforschung werden von Erbtheoretikern in
doppelter Weise mißbraucht. Zum einen wird von der Erblichkeit der
Intelligenz auf ihre Veränderlichkeit geschlossen. Dies ist jedoch
nicht möglich. Merkmalsunterschiede können eine Erblichkeit von 100 %
haben, dennoch kann das individuelle Merkmal unbegrenzt veränderlich
sein. Dieser nur scheinbare Widerspruch hängt damit zusammen, daß
der Erblichkeitsbegriff der genetischen Forschung eine ganz andere
Bedeutung hat als der der Alltagssprache. Dieser Unterschied dürfte
den wenigsten Laien klar sein und wird auch von konservativen
Bildungspolitikern im eigenen Interesse so gut wie immer
unterschlagen. Bildungspolitiker, die sich auf die Ergebnisse der
Zwillingsforschung berufen, sitzen einem Irrtum auf und operieren mit
einem objektiv falschen Argument.
Mit dem Hinweis auf Prozentanteile ist für die pädagogische Praxis
nichts geleistet. Entscheidend ist vielmehr die Frage, wie
psychische Entwicklung abläuft, auf welche Weise sich die Erkenntnis
von der Außenwelt vollzieht. Diese Frage wurde lange Zeit erst gar
nichtgestellt. Man ging von vornherein von einer "konstanten"
Intelligenz aus, die einem als angeblich unabänderliches Gut in die
Wiege gelegt wird. Tests "belegen" dann auch das, was der
herrschenden Ideologie entspricht: die Überlegenheit der einen und
die Unterlegenheit der anderen.
Die traditionelle Begabungs- und Intelligenzideologie ist der
Versuch, eine gegebene Sozialschichtung und die damit verbundenen
Privilegienmuster mit Hilfe der Biologie zu legitimieren, die
Unabänderlichkeit des Gegensatzes von arm und reich zu propagieren;
zu behaupten, den Armen sei nicht zu helfen, da sie von Natur unfähig
und unbegabt seien; die Reichen seien reich, weil sie besondere
ererbte Fähigkeiten besitzen würden. So haben Tests noch heute nicht
zuletzt die Funktion, einen Ist-Zustand als Beleg dieser These
anzufahren, das Produkt einer historisch herausgebildeten
Arbeitsteilung als Ursache der Armut auszugeben.
Intelligenztests haben noch eine weitere, mehr technologische
Funktion: die Zuordnung von sozialen Positionen im Rahmen einer
Partiellen Durchlässigkeit der sozialen Strukturen. Die
kapitalistische Gesellschaft braucht zur Aufrechterhaltung ihrer
inneren Dynamik, ihres "Wachstumsimpulses" und zur Prävention von
Klassenkampf ein Minimum an Mobilität. Intelligenztests dienen der
systemgerechten Kanalisierung der begrenzten Mobilität, der
systemgerechten Verwendung von Leistungspotential. Intelligenztests
sollen beispielsweise den "angepaßten" Befähigten der unteren
Schichten aufsparen und ihm den Aufstieg erleichtern bzw. die
Mangelbefähigung objektiv belegen, um den Abbruch besonderer sozialer
oder pädagogischer Maßnahmen zu begründen.
Intelligenztests implizieren demgemäß ein reduziertes Verständnis der
Fähigkeit, sich in wirksamer Form mit der Umwelt auseinanderzusetzen.
In die Intelligenztests ist von vornherein ein Maß für die soziale
Integrationsbereitschaft "hineingebaut". Intelligenztests stellen in
doppelter Weise die bestehende gesellschaftliche Schichtung nicht in
Frage. Zum einen messen sie weniger schöpferische, kreative
Leistungen, sondern das Maß an "konvergentem Denken", d. h.
desjenigen Denkens, das ein vorgegebenes Ziel exakt im Auge behält
und mit einem Minimum an Aufwand erreicht. Intelligenztests sollen
nicht den Grad an Selbstbestimmungswillen messen, sondern die
Bereitschaft, sich in einem begrenzten Tätigkeitsbereich einzufügen,
eine bestehende Hierarchie und ein abgestuftes Privilegienmuster zu
akzeptieren: ein für überwiegend "mittlere" Qualifikationen und
Arbeitsbereiche erforderliches Wissen und Anpassungsverhalten zu
entwickeln.
Intelligenztests stellen die soziale Hierarchie noch aus einem
weiteren Grund nicht in Frage: Der Faktor Intelligenz leistet nur
einen sehr geringen Beitrag zur sozialen Statuszuweisung. Die
Intergenerationen-Mobilität erfolgt weniger auf der Grundlage
intellektueller Befähigung als der "sozialen Vererbung": der
Berufsvererbung, der schichtenspezifischen Erziehung, der
juristischen Vererbung usw. Der enge Zusammenhang von sozialer
Herkunft und späterem sozio-ökonomischem Status bleibt auch bei
Konstanthaltung der Intelligenz fast uneingeschränkt bestehen. D.h.,
Personen mit gleicher Intelligenz, aber sehr unterschiedlicher
sozialer Herkunft, haben ganz unterschiedliche Statuserwartungen.
Die soziale Herkunft fällt ungleich stärker ins Gewicht als die
Intelligenz.
Was der einzelne für seinen Lebensweg braucht, wird nur zu einem
Bruchteil vom traditionellen Intelligenzbegriff erfaßt. Intelligenz
sagt zwar bis zu einem gewissen Grad Schulerfolg und auch teilweise
den späteren sozio-ökonomischen Status voraus. Aber dieser
Zusammenhang beruht nicht auf einem Verursachungszusammerihang. Der
erreichte sozio-ökonomische Status eines Erwachsenen und der
Schulerfolg sind vielmehr im wesentlichen gleichgerichtet von der
sozialen Herkunft abhängig, von den elterlichen Ressourcen, diefür
die Lebenskarriere der Nachkommen mobilisiert werden können. Gute
Ressourcen vermögen relativ ungünstige Intelligenzvoraussetzungen
weitgehend zu kompensieren, umgekehrt hilft eine relativ gute
Intelligenz bei schlechten Ressourcen wenig, garantiert keineswegs
einen hohen Sozialstatus. Eine Person aus der Oberschicht mit
denselben intellektuellen Fähigkeiten wie eine VergIeichsperson aus
der Unterschicht vermag ihre Fähigkeiten aufgrund ihres angestammten
sozialen "Hintergrundes" ungleich besser zu nutzen (zu
multiplizieren).
Die Bedeutung, die dem Phänomen Intelligenz in seiner vermeintlichen
Anlagebestimmtheit in Literatur und öffentlicher Meinung zugebilligt
wird, steht somit in keinem Verhältnis zur realen Bedeutung der
Intelligenz als Faktor von Lebenserfolg und sozialem Status. Die
Bewertung nach intellektueller Leistung unabhängig von sozialer
Herkunft ist in der kapitalistischen Leistungsgesellschaft die
tragende Ideologie, da in der Tat nur außerordentliche Leistungen
(z.B. in Schule und Universität) für Unterschichtangehörige den "Weg
nach oben" öffnen. Dabei ist allerdings die Tatsache ausgeblendet,
daß Leistung keine sozial indifferente Größe ist, sondern bereits
allemal ein sozial geprägtes Produkt. Leisten kann nur der etwas,
der von Anfang an die richtige Anleitung bekommen hat und die
richtigen sozialen und materiellen Anknüpfungspunkte findet.
Auf diese Weise ist die Aufstiegsmöglichkeit für
Unterschichtangehörige faktisch gering. Diese minimale
MobilitätswahrscheinIichkeit scheint jedoch zu genügen, um die
Ideologie der Chancengleichheit und die Rolle der individuellen
Befähigung für die Statuszuweisung außerordentlich hoch
einzuschätzen.
In Konsolidierungsphasen wird die Ideologie der Chancengleichheit
nicht weiter in Frage gestellt. Sie steuert in wirksamer Weise die
Erwartungen der verschiedenen Sozialschichten an das Leben, an ihre
Lebenskarriere. Sie trägt dazu bei, daß man den Faktor Intelligenz
als Erfolgsbedingung und quasi individuelles Gut wahrnimmt. In
"ruhigen" Phasen der historischen Entwicklung wird nicht nach den
Ursachen, den Entwicklungsbedingungen der Intelligenz gefragt. So
blendet der traditionelle Intefligenzbegriff die
Entwicklungsbedingungen dieses psychischen Merkmals weitgehend aus.
Der traditionellen Intelligenzforschung geht es nicht darum, die
Bedingungen maximaler Lebensbewältigung für alle zu erforschen und
die Störfaktoren der Denkentwicklung (z.B. Fließband) zu
thematisieren. Dies wäre im Hinblick auf die Erhaltung des Systems
ein dysf unktionaler Ansatz. Es geht lediglich darum, ein gegebenes
Produkt (Intelligenz) zu registrieren, zu messen und partielle
Disproportionalitäten zwischen individueller Befähigung auf der einen
Seite und sozialer Position auf der anderen Seite im Sinne einer
Harmonisierung auszugleichen, d. h., besonders Tüchtige der
Arbeiterschicht, soweit dafür Nachfrage ist, in eine etwas höhere
soziale Position zu lancieren; nicht aber darum, mögliche Hemmnisse
der intellektuellen Entwicklung aufzudecken. Die traditionelle
Intelligenzforschung orientiert sich demnach am Status quo, an den
Entwicklungsprodukten, die die vorgegebene Gesellschaftsordnung
hervorbringt. Dem Gedanken einer stabilen Gesellschaftsordnung,
einer nicht in Frage zu stellenden sozialen leerarchie entspricht
eine konstante Zuordnung von Intelligenz und sozialer Zugehö-
rigkeit.
Die traditionelle Intelligenzideologie und die statische
Bewertungsstrategie des Menschen erweisen sich allerdings in
Boom-Zeiten, in Phasen rascher Expansion und sozialer Veränderungen
als unzulänglich. D.h., die These von der Festgelegtheit des
Menschen und der "natürlichen" Ordnung der Gesellschaft kann von Zeit
zu Zeit zu einem Hemmfaktor der historisch notwendigen
Weiterentwicklung des Systems werden.
So braucht die technologisch hochentwickelte Gesellschaft
beispielsweise relativ mehr "Kopfarbeiter" als die Gesellschaft des
19. Jahrhunderts. Dies erfordert ein Umdenken im Hinblick auf die
Einschätzung der intellektuellen Entwicklungsmöglichkeiten der
Menschen, insbesondere der unteren Schichten. Unter diesen
Bedingungen muß die Ideologie, die Armen seien unabänderlich
"unbegabt", zeitweilig aufgeweicht werden, müssen die reaIen
Entwicklungshemmnisse dieser sozialen Gruppe zumindest teilweise
thematisiert und in ihrer materiell-existentiellen Bestimmung
präzisiert werden. Unter diesen Bedingungen sieht man sich gezwungen,
das, was man zur ideologischen Festigung der bestehenden
Gesellschaftsordnung traditionell als "biologisch verankert" und
unveränderlich, als natürliche Ordnung ausgegeben hat, seines
biologischen Schleiers zu entkleiden.
Was in ruhigen Phasen schlechthin als "Mangelbegabung" der
Unterschichten bezeichnet wird, erfährt in Phasen stürmischer
Personalnachfrage für qualifizierte Berufe ein dynamisches Etikett:
"Bildungsdistanz" und "kumulatives Lerndefizit". D.h., stürmische
Entwicklungsphasen haben es an sich, tendenziell "kritisches"
Gedankengut zu fördern, die Fähigkeiten der Menschen eher als in
Konsolidierungsphasen in ihren Entwicklungszusammenhängen zu sehen.
In solchen Zeiten gesteht man teilweise auch ein, daß die
Lebensbedingungen der Armen für die geistige Entwicklung eine
destruktive Bedeutung haben, daß unzureichende Ernährung die
hirnorganische Entwicklung beeinträchtigt und die Motivation drückt;
daß die bestimmten Gruppen traditionell anerzogene
Autoritätsgläubigkeit, Machtlosigkeit und Fremdbestimmung der
kapitalistischen Expansion Grenzen setzen können und teilweise
überwunden werden müssen. Dies ist der Nährboden der
schichtspezifischen Forschung, der Aufarbeitung der erzieherischen
und Umweltbedingungen der Lernfähigkeit wie der Lerrunotivation.
Diese historischen Bedingungen machen es notwendig, die Begabung
"dynamisch" zu konzipieren, die Tbeorie von der Begabungsverteilung
in der Bevölkerung "großzügiger" zu formulieren.
Mit dem öffentlich ausgerufenen "technologischen Wettlauf" zwischen
Ost und West wurde ein entscheidender Impuls für die
entwicklungspsychologische Forschung gegeben, fragte man mehr denn je
nach den Prozeßbedingungen der intellektuellen Entwicklung. Zu
diesen Prozeßbedingungen gehören insbesondere die Bedürfnisse nach
Erkenntnis und nach aktiver Gestaltung der Lebenswelt. Die frühe
Phase dieses Jahrhunderts hatte es nicht nötig, diese Bedingungen
auszuformulieren. Die von der traditionellen Intelligenzforschung
vorgenommene Abspaltung der Motivation und der sozialen Dimension von
der Intelligenzentwicklung mußte in den sechziger Jahren tendenziell
wiederrückgängiggemachtwerden. Unter den Bedingungen des
hochentwickelten Kapitalismus und der zunehmenden
Verwissenschaftlichung und Intensivierung der gesellschaftlichen
Produktion muß ein gewisser Teil auch der bisher in untergeordneten
Positionen gehaltenen sozialen Gruppen zu gehobenen intellektuellen
und eigenmotivierten Leistungen befähigt werden. Um diese
Persönlichkeitsmerkmale bei einem Teil der unteren Schichten
herauszubilden und bei den Nfittelschichten verstärkter denn je zu
fördern, bedarf es einer genauen Analyse der realen Determination
dieser Persönlichkeitsmerkmale, insbesondere der traditionellen
Barrieren, die die Menschen an ihre historisch angestammte soziale
Position gebunden haben.
Das biologistische Verständnis der Verhaltensentwicklung kann dieser
Phase der Umorientierung nicht dienen. In dieser Zeit fragt man sich
verstärkt danach, wie der Mensch den neuen historischen Bedingungen
gerecht zu werden vermag, welche Bedingungen seinen
Entwicklungsprozeß entscheidend beeinflussen. Dies ist die Zeit des
umwelttheoretischen Standpunktes, des erzieherischen und
pädagogischen Optimismus.
Die Umwelttheorie ist eine durch das Prisma der gesellschaftlichen
Machtverteilung und -interessen wahrgenommene Veränderlichkeit der
Menschen. D. h., die Umwelttheorie ist keine rigorose Theorie der
gesamten Entwicklungsmöglichkeiten des Menschen, der perspektivischen
Entwicklungstendenzen aller, sondern eine vom Stand der Entwicklung
und der historischen Erfordernisse abhängige und damit wandelbare
Zusammenstellung von Thesen zur Veränderlichkeit von Verhaltensweisen
bestimmter Menschengruppen. Sie tritt zwar häufig mit idealistisch
verbrämten Zielsetzungen ("Chancengleichheit") auf, deren objektive
Begrenzungen jedoch von den führenden Gruppen von vornherein
"stillschweigend" eingeplant ist. Diese idealistischen Zielsetzungen
werden allemal durch "historische Realitäten" (sprich
gesellschaftliche Machtfaktoren) in ihre Grenzen verwiesen.
Stürmische Entwicklungsphasen wie die sechziger Jahre führen demnach
zu einer fortschreitenden Aufarbeitung eines Teils des
Determinationsfeldes geistiger Entwicklung, das bisher weitgehend
durch biologistische Erklärungsmodelle beherrscht war: wie die
Mutter-Kind-Beziehung und die Dreigliedrigkeit des Schulsystems. Die
traditionelle Mutter-Ideologie betont den biologistisch-emotionalen
Aspekt, den Aspekt der Sicherheit und Geborgenheit, weniger den
perspektivischen Charakter der Mutter-Kind-Interaktionen: die darin
enthaltenen Lernprozesse und Erkenntnisanteile für das Kind. Solange
die Leistungen der Familie den historischen Erfordernissen der
Reproduktion des Gesellschaftssystems entsprechen, besteht kein
Anlaß, die biologistische Version aufzugeben. Was die Familien
aufgrund ihrer angestammten Position innerhalb der sozialen
Hierarchie quasi wie von selbst hervorbringen, bedarf keiner
wissenschaftlichen Analyse, erfordert keine materialistische
Hinterfragung, erscheint in den Augen der Gesellschaft vielmehr als
ein "natürlicher" Prozeß. Nur so versteht sich die Ausblendung des
perspektivischen Entwicklungsprozesses aus der Mutter-Kind-
Beziehung, die Betonung der Bindung des Kindes an die Mutter. Die
traditionelle Bindungsideologie verstellt den Blick für die
perspektivische Dimension des Umgangs des Kindes mit der Mutter, für
die durch die Interaktionen mit der Mutter ermöglichten
fortschreitenden Kompetenzerweiterungen und die im Laufe der
Interaktionen stattfindenden schichtspezifischen Prägungen der Denk-
und motivationalen Orientierungen.
Erst mit dem Übergang von der extensiven zur intensiven Entwicklung
der kapitalistischen Produktion macht der Zwang zu wachsender
Intensivierung auch vor der wichtigen Bastion der bürgerlichen
Gesellschaft nicht halt: vor der Familie, wird die
Mutter-Kind-Beziehung ihrer biologistischen Ideologie entkleidet und
auf ihre reale Funktion für die Reproduktion sozialer
Persönlichkeitsstrukturen hin analysiert - mit dem Ziel, die
Erziehungstechniken gemäß den neuen Herausforderungen zu optimieren,
bewußter und gezielter zu gestalten. Das Reizwort dieser Zeit ist
"Stimulation".
Eine entsprechende tendenzielle Entbiologisierung vollzieht sich in
solchen Phasen im Bereich der Bildungspolitik. Nach traditioneller
Ideologie entspricht die Dreigliedrigkeit des Schulsystems der
biologischen Begabungsschichtung. Erst zu dem Zeitpunkt, da dieses
System die historischen Erfordernisse nicht mehr erfüllt und eine
begrenzte Bildungsmobilität auch zugunsten der unteren Schichten
notwendig wird, spricht man von "sozialer Selektivität" der Schule
und fordert mehr "Chancengleichheit" sowie eine bessere "Ausschöpfung
der Begabungsreserven", anerkennt man, daß das traditionelle
Schulsystem keineswegs eine unmittelbare Ableitung der vorhandenen
Begabungen ist.
Der "aufgeklärte" Begabungsbegriff bezieht sich nicht auf biologische
Überlegungen, sondern auf "bildungsökonomische". Begabung versteht
sich im Sinne der technologischen Gesellschaft als Investitionsgut,
in das zu investieren je nach sozialer und wirtschaftlicher Lage sich
lohnt oder nicht lohnt. In die Definition von Begabung geht demnach
eine gewisse Gewinnerwartung ein. Was in Konjunkturphasen
möglicherweise als vielversprechende Begabungsreserve gilt, wird in
flauen Zeiten schlechthin zum Begabungsmangel abqualifiziert, als
Potential bezeichnet, in das zu investieren nicht lohnt, wonach keine
Nachfrage besteht, dessen Entfaltung möglicherweise eine
"Fehlinvestition" oder gar Ursache von sozialen Unruhen werden kann.
Begabung heißt im Rahmen einer Gesellschaft, in der soziale Herkunft
noch immer weitgehend die Weichen des Lebenslaufes stellt, zunächst
einmal: ein Minimum an Investition des Sozialstaates in die
Entwicklung bestimmter Anpassungsmuster und Qualifikationen. Schulen
fungieren nicht als Korrektor, sondern als Multiplikator von familiär
vorstrukturierten Lernprozessen.
Das, was die Familien für die Herausbildung von berufsspezifischen
oder im weitesten Sinne von Fertigkeiten, Qualifikationen und
Persönlichkeitsmerkmalen leisten, braucht nicht dem Sozialstaat
aufgebürdet zu werden, hat die Schule als vergesellschaftete Form von
Ausbildung nicht nachzuholen. Der Beitrag der Familien ist je nach
ihrer sozialen Lage sehr unterschiedlich. Die unteren Schichten
können ihren Kindern nur sehr wenig für eine fortschreitende
Entfaltung ihrer intellektuellen Kompetenz mitgeben. Sie
sozialisieren ihre Kinder sogar gezielt für untergeordnete Funktionen
innerhalb des hierarchischen Produktionssystems: für
Unselbständigkeit, Fremdbestimmtheit, für mehr oder minder
unschöpferische Tätigkeiten, für die Anerkennung von Autorität. Alle
diese Zielsetzungen beeinträchtigen die Entwicklung der
intellektuellen Kompetenz und der schulischen Leistungsfähigkeit und
damit die Möglichkeit, aus dem Teufelskreis von Entmotivierung,
Gefühl der Schwäche und Machtlosigkeit auszubrechen. Sie tragen dazu
bei, daß die Angehörigen der Unterschichten von schulischen Angeboten
nicht ausreichend profitieren können oder doch zumindest weit weniger
als Kinder gehobener Schichten.
Letztere können die schulischen Lernangebote weit effektiver für
sich nutzen, da die in der Schule geltenden Wertmaßstäbe, die dort
behandelten Inhalte und die dort übliche Sprache usw. eher eine
Anknüpfung an das Herkunftsmilieu ermöglichen. D. h., Schüler
verschiedener sozialer Schichten verarbeiten die schulischen
Herausforderungen auf Grund bestimmter Vororientierungen, Wertmuster
und unterschiedlicher Handlungsstrategien ganz anders. Der Mensch
reagiert auf die äußeren Herausforderungen nicht mechanisch, sondern
gemäß seinen dominierenden Erfahrungen, seinen verfestigten
kognitiven und motivationalen Bezugssystemen. Die verschiedenen
sozialen Vorerfahrungen und Wertmaßstäbe wirken im Rahmen des
schulischen Lernens im Sinne von Multiplikatoren. Für die einen ist
dieser Multiplikator sehr hoch, für die anderen sehr niedrig, für
noch andere möglicherweise sogar negativ. Diese letzte Gruppe
erfährt Schule gar als ein Feld der Demütigung, der Entfremdung von
den Bezügen, die durch ihre Herkunft fundamentiert sind. Wie viele
davon betroffen sind, kann an dem Ausmaß der Schulangst und der von
Schuljahr zu Schuljahr sich verstärkenden Entmotivierung der Schüler
abgelesen werden.
Die individuell verschiedenen Lernmultiplikatoren drücken die
unterschiedliche Vorbereitung der Schüler verschiedener
Sozialschichten für die schulischen Herausforderungen aus bzw. die
Tatsache, daß die Schule den Kindern um so weniger gerecht wird, je
niedriger ihre soziale Herkunft ist. D. h., die individuell
verschiedenen Multiplikatoren bilden im wesentlichen das Produkt
sozial determinierter Erfahrungen, das Produkt der über Generationen
verfestigten Lebensperspektiven, die durch schichtspezifische
Erziehungstechniken und berufliche Anforderungen sowie durch in die
sozialen Institutionen hineingebauten sozial differenzierenden
Maßnahmen vermittelt und stabilisiert werden.
Diese Multiplikatoren sind individualspezifische verfestigte
Verhaltenssysteme und werden vom Lehrer als Persönlichkeitskonstanten
wahrgenommen, über die man sich in der Tat nicht hinwegsetzen kann.
Schule sieht nämlich nicht vor, daß diesen Besonderheiten
"ausgleichend" Rechnung getragen wird. Lehrer haben im Prinzip keine
Möglichkeit, diese Multiplikatoren zu ändern, korrigierend tätig zu
werden. Lehrer machen tagtäglich die Erfahrung, daß Schüler
(entsprechend ihrer unterschiedlichen UnterstÜtzung im Elternhaus)
auf Schule verschieden reagieren und verschiedene Leistungen
erbringen. Was liegt in diesem Fall näher als anzunehmen, daß
Schüler mit verschiedenen "Begabungen" (Lernmultiplikatoren)
ausgestattet sind.
Der Begabungsbegriff hat überdies den Vorteil, sozial neutral zu sein
und damit nicht ständig den Widerspruch zwischen der Ideologie der
Chancengleichheit und der faktisch bestehenden Chancenungleichheit
den Menschen vor Augen zu führen. "Schulische Begabung" verteilt sich
weitgehend im Sinne der sozialen Herkunft. Wer in der Schule
zurechtkommt, ist nicht unbedingt der intellektuell Befähigte,
sondern in erster Linie der sozial Privilegierte. Schulerfolg wird
eindeutig stärker durch soziale Herkunft als durch Intelligenz
beeinflußt. D. h., intellektuelle Befähigung reicht für schulischen
Erfolg nicht aus. Man muß in erster Linie aus dem richtigen
Elternhaus kommen.
Dabei gibt es keinen Hinweis dafür, daß das intellektuelle Potential
über die Sozialschichten unterschiedlich verteilt ist. Man könnte
die Kinder der Oberschicht urunittelbar nach der Geburt in die
Familien der Arbeiterschichten versetzen und umgekehrt die Kinder der
Arbeiterschichten und der sozialen Randgruppen in die Mittel- und
Oberschichten. Die Arbeiterkinder würden in den gehobenen Familien
die typischen Merkmale der Mittel- und Oberschichtkinder erwerben;
die Mittel- und Oberschichtkinder würden den Sozialcharakter
einschließlich der typischen Intelligenz der Arbeiterschicht sich
aneignen und die für diese Schicht charakteristischen Le- bensläufe
zeigen.
Damit ist nicht gesagt, daß es überhaupt keine genetischen Einflüsse
für schulisches Lernen gibt. Man muß vielmehr unterscheiden zwischen
Anlage-Unterschieden zwischen sozialen Schichten und innerhalb der
Schichten bzw. innerhalb der Gesamtbevölkerung. Man kann nun sagen:
Die Kinder verschiedener Schichten sind im wesentlichen für
schulisches Lernen gleich veranlagt. Die empirischen Daten deuten in
der Tat darauf hin. Innerhalb der Schichten bzw. der
GesamtbevöIkerung kann es dennoch genetische Effekte geben. Diese
erklären allerdings nur einen sehr begrenzten Teil der
Schulleistungsunterschiede, denn der überwiegende Teil der
Schulleistungsunterschiede geht auf intelligenzunabhängige soziale
Unterschiede zurück.
Die angesprochenen individuellen Lernmultiplikatoren sind demnach in
erster Linie ein soziales Produkt. Solange diese Multiplikatoren
existieren, gibt es auch abgestuftes Lernverhalten, zumal das
Schulsystem selbst durch bestimmte Vorkehrungen (Notensystem,
Leistungskurse, verschiedene Schularten, mittelschichtorientierte
Lehrpläne, soziale Stereotype der Lehrer usw.) unterschiedlichen
Schulerfolg institutionalisiert hat und damit den Schülern regelrecht
aufzwingt. Solange die Multiplikatoren in den Schülern existieren
und die Schulen im wesentlichen die Funktion der Reproduktion des
Gesellschaftssystems ausüben, bleibt Pädagogen nichts anderes übrig,
als Begabung als Erklärung für unterschiedliche Schulleistungen zu
verwenden, solange muß der Hinweis, daß im Prinzip alle für gute
Schulleistungen befähigt sind, als "unrealistisch" und "utopisch"
erscheinen.
Was traditionellerweise unter Begabungsmangel verstanden wird, ist
weitgehend identisch mit Verhaltensstrukturen, die man nur mit
relativ hohen Kosten für den Sozialstaat in Richtung eines gehobenen
Bildungsniveaus verändern kann. Was die famiiiale Sozialisation
vorbereitet, durch den täglichen Umgang verstärkt, an Hilfen
anbietet, durch angebotene Anregungen bereits in die Wege leitet,
braucht vom Schulsystem, d. h. von der vergesellschafteten Form der
Ausbildung nicht mehr geleistet zu werden, verläuft relativ wenig
kostenreich für den Staat. Begabt ist im Sinne der
bildungsökonomischen Definition der, der den Staat oder die
privatwirtschaftlichen Unternehmen im Hinblick auf die Entwicklung
bestimmter Anpassungsmuster, Qualifikationen und Fähigkeiten
wenigkostet, den die familiale Sozialisation bereits mit adäquaten
Strategien ausgestattet hat, die eine rasche Aneignung wichtiger
Anpassungsmuster ermöglichen. Der Hinweis auf die Anlagen versteht
sich im Sinne des bildungs-ökonomischen Modells von Begabung als die
biologistische Bestimmung der Grenze, bis zu der man vorhandenes
Entwicklungspotential zu entwickeln bereit ist.
Nachdem heute der Nachholbedarf gedeckt ist und es keineswegs als
gesicherte Lehrmeinung gilt, daß das kapitalistische
Produktionssystem generell Höherqualifizierung notwendig macht,
stagniert die Bildungsreform, werden traditionelle Leitbilder und
ideologische Schemata wiederbelebt, kommt der in den sechziger Jahren
schon als überholt angenommene Nativismus zu neuen Ehren. Nachdem
Frauen im Produktionsprozeß nicht mehr so dringend gebraucht werden,
erfährt die Mutter-Ideologie eine Wiederbelebung, besinnen sich
Bildungspolitiker wieder auf die "Daten" von eingeschworenen
Anhängern der Erbtheorie, die ihre Thesen mit Hilfe verzerrter
Datenausdeutung und unzulänglicher Methoden zu unterstützen
versuchen. Die starke politisch-ideologische Vororientierung geht
dabei zum Teil bis zur bewußten oder unbewußten Manipulierung der
Daten. Das Ziel steht dabei von vornherein fest: zu "belegen", woran
man schon immer geglaubt hat, daß die Kinder der Armen, der
Arbeiterschicht, es niemals so weit bringen werden wie die Kinder
gehobener Schichten.
Die ideologische Funktion des traditionellen Intelligenzbegriffs und
der Anlage-Umwelt-Problematik ist heute offenkundig. Sie blockiert
die uneingeschränkte Klärung des Zusammenhangs von Lebensbedingungen
und psychischen Strukturen und der auf der Grundlage dieses
Zusammenhangs geschaffenen subjektiven Hemmnisse fortschreitender
Demokratisierung der Gesellschaft.
Eine entscheidende Anregung durch den dialektisch-materialistischen
Ansatz für die bürgerliche Intelligenzforschung ist gegenwärtig nicht
zu erwarten, da er systemsprengende Kraft hat. Genauer: die
bürgerliche Psychologie öffnet sich dem dialektisch-materialistischen
Konzept nur scheibchenweise, und zwar in dem Maße, wie die
historischen Bedingungen dies notwendig machen. Diese Öffnung
verläuft entsprechend den Konjunkturwellen bzw. den Bewegungen der
Produktivkraftentwicklung in ungleichmäßigem Rhythmus. Insgesamt
kann man jedoch seit Beginn dieses Jahrhunderts eine tendenzielle
Annäherung der geltenden Lehrmeinung an die
dialektisch-materialistische Position erkennen - wenngleich man von
ihr noch sehr weit entfernt ist. Bisher war das kapitalistische
System, wollte es im Weltsystem bestehen, noch immer dazu gezwungen,
das Entwicklungspotential Stufe für Stufe, wenn auch mit zeitweiligen
Rückschlägen, zunehmend zu entfalten, die biologischen Deutungen mehr
und mehr über Bord zu werfen, die psychische Entwicklung auf ihre
tatsächlichen Bedingungen hin zu untersuchen: Was lange Zeit als
biologisch verankert und als unabänderlich angenommen wurde, als
unantastbar galt, mußte im Laufe der Zeit als Produkt der Entwicklung
und der Wechselwirkung zahlreicher Prozesse angesehen werden.
Inwieweit dieser Trend forgesetzt wird, entscheidet sich offenkundig
weniger im Bereich der Wissenschaft selbst als dort, woher die
Wissenschaft ihre ideologischen und theoretischen Impulse erhält: von
den jeweiligen Machtströmungen der Gesellschaft.
Zusammenfassung von: Hermann Rosemann, Intelligenztheorien.
Forschungsergebnisse zum Anlage-Umwelt-Problem im kritischen
Überblick
mfg Martin Blumentritt http://www.martinblumentritt.de/
"Die Antisemiten vergeben es den Juden nicht, daß die Juden Geist
haben - und Geld. Die Antisemiten - ein Name der Schlechtweggekommenen."
(F.Nietzsche)