Post by Jakob AchterndiekIst nicht die willentlich gekürte Regelung, eine wichtige Wortklasse
durch Großschreibung herauszuheben, eine durchaus "vernünftige" Regelung?
Meiner Meinung nach: ja.
Aber es erzeugt Abgrenzungsprobleme und damit Streit.
Zur Begründung verweise ich auf mein täglich Brod.
Als ich vor mehr als 50 Jahren anfing zu programmieren, schrieben wir
noch ALLES GROSS. Für strukturbildende Wörter analog zu Präpositionen
und Konjunktionen in natürlichen Sprachen, gab es drei verschiedene,
orthographische Ansätze. Fortran erkannte die Struktur an sekundärer
Zeichensetzung, braucht bis heute keine Leerzeichen und läßt Leerzeichen
auch mitten im Wort zu, reservierte Strukturwörter gibt es nicht. Cobol
hat davon jede Menge. Und Algol hob die strukturbildenden Wörter durch
Einschließen in Apostrophe hervor.
Die nachfolgenden Jahrzehnte brachten dann eine Annäherung an natürliche
Sprachen, sowohl in der Syntax als auch in der Typographie. Die
Algol-Apostrophitis ist restlos ausgestorben, und auch die
nicht-menschliche Spitzfindigkeit der Fortran-Syntax hat außer dem
vergessenen PL/I niemand nachahmen wollen.
Es gibt zwar immer noch Exoten, aber der allgemeine Konsens ist heute,
daß strukturbildende Wörter durchgängig kleingeschrieben werden. Das
gilt beim Programmieren auch für die sehr überschaubare Menge der
„Verben“. Was bleibt sind mehr oder weniger Substantive, und die
schreibt man nicht nur gern mit großen Anfangsbuchstaben, sondern auch
noch in KamelRückenSchreibweise. Die archaische BRÜLLSCHREIBUNG ist
meist auf Anwendungsfälle beschränkt, die ein moderner Programmierer
tunlichst meidet. Sie dient als freundlicher Hinweis an den
nachfolgenden Kollegen, daß da gepfuscht worden ist.
Hier ist orthographisch in 50 Jahren etwas passiert, was zuvor 5000
Jahre gedauert hat. Wie in natürlichen Sprachen auch bringt die
Orthographie dem Schreiber nichts als Mühen. Sie dient ausschließlich
dem Leser, und zwar dem menschlichen Leser, nicht dem Computer.
Beim Lesen eines Programms oder einer Zeitung bilden Verben und
Präpositionen die Satzstruktur. Substantive sind Füllmaterial. Offenbar
ist es von Vorteil für das schnelle Erfassen der Struktur, wenn die
strukturblidenden Wörter typographisch unauffällig auftreten. Wörter,
die sich mit Versalien in den Vordergrund drängen, werden bei der
syntaktischen Analyse zunächst ausgeblendet.
In diesem Lichte betrachtet ist die deutsche Substantivgroßschreibung
einfach die modernste aller Orthographien und den halbherzigen Ansätzen
der russischen und englischen Sprache weit überlegen. Das Deutsche war
nicht immer alleiniger Vorreiter in dieser Frage, aber leider sind die
Dänen aus außersprachlichen Gründen wieder zur primitiveren Form
zurückgekehrt.
Gerd
--
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