Post by Helmut RichterDate: Mon, 30 Jul 2018 14:12:39 +0200
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Subject: Re: Bedeutung und grammatische Funktion von 'verschwunden'
Post by Olaf DietrichPost by Helmut RichterPost by Ralf Joerres3) er ist vor einer halben Stunde verschwunden
ein normales Perfekt
Post by Ralf Joerres4) er ist seit einer halben Stunde verschwunden
ein Zustandspassiv
Ich hatte gedacht, dass man von 'Zustandspassiv' nur bei Verben redet, die
auch ein werden-Passiv bilden können, also bei transitiven V. Da es anderer-
seits viele Partizipien II gibt, die als Adjektive oder Substantive benutzt
werden (z.B. 'angestellt'), ist die Unterscheidung 'sein + Adjektiv' vs.
'Zustandspassiv' ohnehin schwierig ('er ist bei Saturn beschäftigt' / '...
dort als Aushilfe beschäftigt' / 'zur Zeit nicht beschäftigt').
Post by Helmut RichterPost by Olaf DietrichPost by Helmut RichterMan erkennt den Unterschied daran, dass das Zustandspassiv wie ein Adjektiv
auch attributiv verwendet werden kann: „der seit einer halben Stunde
verschwundene Mann“.
Im Gegensatz zu »dem vor einer halben Stunde verschwundenen Mann«?
Wo erkenne ich da einen Unterschied?
Sehr berechtigte Nachfrage!
Durchaus: so einfach ists nicht. Man sieht den Unterschied deutlicher
der Mann hat das Buch gelesen (Perfekt)
der das Buch gelesen habende Mann
Solche grammatik-ingenieurartig konstruierten Beispiele finde ich proble-
matisch, ich suche nach Möglichkeit Beispiele, welche die Chance haben,
auch gesagt zu werden.
Post by Helmut Richteranalog
der Mann ist verschwunden (Perfekt)
der verschwunden seiende Mann
Ist das noch deutsch?
Post by Helmut Richterder Mann ist verschwunden (jetziger Zustand, also Präsens)
der verschwundene Mann
Hier funktionieren die Beispiele.
Ich fürchte, man muss da tiefer einsteigen. Den Artikel zum
Zustandspassiv bei Wikipedia habe ich erst nachträglich gelesen, den
Duden dazu hab ich erst angefangen, es ist schwer, bei diesem Thema
den Überblick zu behalten. Angesprochen sind u.a. der Unterschied
zwischen > resultativen und nicht-resultativen Verben bzw. Konstruk-
tionen sowie vergleichbaren bzw. konkurrierenden > Aktionsarten,
vielleicht auch der aus der englischen Grammatik (?)geläufige Unterschied
zwischen > 'Zustandsverben' und 'Vorgangsverben'; der Wikipedia-Artikel
benutzt für eine Zustands-Aktionsart auch den Begriff 'Stativ', ohne ihn
jedoch zu erklären.
Vielleicht auch sind die Unterscheidungen der vielen Verbgruppen, die
eine zustandspassivähnliche Konstruktion erlauben, zu kompliziert und
für das Deutschlernen kaum handhabbar.
Wie auch immer. Einen Satz wie 'der Mann ist seit Tagen verschwunden'
würde ich nicht als Perfekt auffassen (anders als 'der Mann ist vor
drei Tagen verschwunden'). Als Zustandspassiv wie überhaupt als passivisch
würde ich ihn nur indirekt verstehen können: er kann nicht kontaktiert
werden. Das Ergebnis eines Verschwinden-Lassens wie in Mexiko oder
Argentinien würde sprachlich anders ausgedrückt (seit Tagen / Wochen hat
ihn niemand mehr gesehen). Die Bedeutung ähnelt 'weg' oder 'unauffindbar',
aber 'unauffindbar' würde man, anders als bei Gegenständen, in diesem Fall
wohl nicht sagen
(?) der Mann ist seit Tagen unauffindbar,
und bei 'weg' sollte nach meinem Gefühl die Anzahl der Tage genannt werden
er ist seit drei Tagen weg / ?er ist seit Tagen weg.
Sowohl aktives Untertauchen als auch mysteriöses Plötzlich-Weg-Sein gibt es
auch so:
er ist schon seit einiger Zeit von der Bildfläche verschwunden
(= niemand hat ihn die letzte Zeit gesehen)
der Mann hat sich (praktisch) in Luft aufgelöst
(betont die Unmöglichkeit einer erfolgreichen Suche)
er war wie vom Erdboden verschluckt
(eher kurzzeitig, betont die Plötzlichkeit).
Am ehesten verstehe ich das seit-Tagen-verschwunden-Sein als adjektivische
Bezeichnung eines Zustands mit dem Gegenteil 'da oder dort anzutreffen sein'.
Viele 'Perfekt'formen haben einen solchen 'Zustands'-Aspekt:
sie hat die Arbeit endlich abgegeben > sie ist fertig damit
er hat sein Auto wieder repariert > er hat es nicht selbst repariert,
sondern es steht abfahrbereit im Hof
sie hatte die ganze Zeit den Hut aufgesetzt > sie behielt ihn auf
er hat beim Arbeiten immer das Fenster geöffnet.
Gruß Ralf Joerres