Post by Stefan SchmitzPost by Ralf JoerresPost by Stefan SchmitzPost by Heinz LohmannGeläufig ist mir "verhandeln mit/über". Aber "etwas verhandeln"?
https://www.dwds.de/wb/verhandeln
| ⟨etw. mit jmdm. verhandeln⟩ etw. mit jmdm. eingehend erörtern
Derjenige, mit dem das Thema verhandelt wird, ist in deinem Beispiel der Leser.
Nein, im Text steht kein 'mit', und die Bedeutung ist eine andere.
Weil da kein 'mit' steht, habe ich den Teil ergänzt.
Und was ist an dieser Bedeutung anders als im Text des OP?
In den herbeizitierten Texten steht nicht, dass Nöstlinger mit wem auch
immer verhandelt hätte, das würde auch sofort den Sinn in Richtung 'in
einer dialogischen Situation intensiv durchsprechen' verändern. Es steht
da, dass sie irgendwelches Material verhandelt hat. Ich fasse das so auf,
dass sie es für sich und mit sich selbst 'verhandelt' hat. Das tut sie,
schon richtig, vor den Augen des Lesers, aber der kann nicht mitverhandeln.
Der Eintrag von DWDS hat nicht dieses gehobene 'etwas verhandeln' ohne
weitere Ergänzung zum Ziel, wie auch das Beispiel zeigt: 'ich habe
diese Angelegenheit mit ihm verhandelt.' Hier ist 'mit ihm' nicht weglass-
bar, sonst wäre der Sinn in etwa 'ich war der Verhandlungsführer'.
Nun ist bei einem seltenen und womöglich spontan neu gebildeten Wort
niemand gezwungen, unter den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten eine
bestimmte zu akzeptieren. Es gibt allenfalls Plausibilitäten. Beispiele:
"Die Filmemacherin will mit diesem Film den einschlägigen Bildern und
Narrativen von Migration eine neue Perspektive entgegensetzen. Ihr Stoff
verhandelt grundsätzliche Fragen dokumentarischen Arbeitens: Nähe, Distanz,
Voyeurismus..."
( https://www.do-xs.de/doku-klasse/tag/pantea-lachin/ )
"'Carry On' markiert somit das Ende einer Ära und fungiert zugleich als
Auftakt zum nächsten Kapitel ihrer Karriere, in dem Béatrice Martin mit
noch mehr Tiefgang persönliche Erfahrungen und Erlebnisse verhandelt."
( https://www.universal-music.de/coeur-de-pirate/biografie )
"'Der Sittich als Symbol' [= Name einer Erzählung] verhandelt Erfahrungen
als Ehemann und deckt eine pan-feministische Verschwörung auf."
( http://www.jepewoerz.de/kurzgeschichten.html )
"Verhalten, fast mit einer gewissen Scheu verhandelt die Autorin den
leitmotivischen Titel des Romans: die offensichtlich misslungene Mutter-
Sohn-Beziehung, wofür (....) der exzessive Selbstverwirklichungsdrang der
'freien Frauen' (...) verantwortlich gemacht wird."
( http://www.fr.de/kultur/literatur/barbara-von-becker-eine-andere-frau-a-1199272 )
und so weiter und so weiter, beliebig fortsetzbar.
Man könnte so zu dem Schluss kommen: Dieses feuilletonistische und rezen-
sionistische 'verhandeln' soll auf gewählte Weise ausdrücken, dass
bestimmte Themen, Stoffe, Erfahrungen, Motive, Inhalte zu einem Werk
verarbeitet werden. Das neu gebildete Verb kann man als eine Kombination
von 'handeln' in 'behandeln' und 'handeln von' und der Vorsilbe 'ver-'
im Sinne von 'verändern zu, verarbeiten zu', wobei man das Ziel als
literarisch gestaltete Handlung - 'ver-handeln' also quasi wörtlich -
auffassen kann, oder das 'Verhandeln' ein 'Handeln von' / Gegenstand ist'
von Inhalten versteht, die vom Schöpfer in ein Werk überführt werden.
Dass das Verb auch als ein intensives Selbstgespräch unter Anteilnahme
des Lesers verstanden werden kann: möglich. Das ist für mich weniger
eingängig, aber da hat jeder seine eigenen Pfade und Zugänge. Auffällig
ist für mich, dass genau dieses Verb im Kulturteil von Publikationen so
beliebt ist. Das erkläre ich mir so, dass ein 'behandeln' oder ein
'verarbeiten' den jeweiligen Rezensenten zu banal erscheint - es soll
sich halt auch nach was anhören.
Gruß Ralf Joerres