Post by Gunhild Simon"Der gestorbene Altbundeskanzler ..."
http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-06/altkanzler-helmut-kohl-staatsakt
Ich stoße mich immer wieder daran, daß sterben
und versterben so beliebig verwendet werden.
Nach meiner Beobachtung wird versterben zunehmend
verwendet, um Pietät zu zeigen.
Hier scheint mir der gegenteilige Gebrauch
vorzuliegen - vielleicht, weil eine
Differenzierung so oft thematisiert wird.
Ich würde den richtigen Gebrauch anders
definieren.
Dazu gehört jedenfalls, daß ein Partizip II,
das adjektivisch gebraucht wird, "verstorben"
- also z. B. "verstorbene Tante, Eltern, Oma" -
lautet,
Exakt. Eine 'gestorbene Tante' ist zur Zeit noch falsch. Aber die
Einflüsse der Schlecht-Deutsch-Beherrscher wirken sich mit der Zeit
vielleicht auch an diesem Punkt aus.
Post by Gunhild Simonwährend ein Partizip II, das die Zeit
des Abscheidens bestimmt, "X ist/war gestorben"
lautet.
Wobei man sich sehr wohl fragen könnte: Ist das jetzt ein Perfekt, oder
ein Präsens?: ist gestorben = ist tot.'Sterben' ist keine Tätigkeit,
sondern eine 'Zustandsänderung', und viele Verben der Zustandsänderung
haben es an sich, dass ihre Partizipien 2 im sog. Perfekt eine starke
Nähe zu Adjektiven entwickeln, indem sie den neu eingetretenen Zustand
benennen: ist aufgewacht = wach, ist eingeschlafen = nicht mehr wach,
ist viel gewachsen = jetzt groß usw.
Bemerkung am Rande: Man sagt z.B. auch: Der ist für mich gestorben,
im Sinne von 'für mich erledigt, bei mir unten durch'. Adj. oder
Perfekt? Perfekt wäre ja: Er hat für mich sein Leben geopfert.
Dann wäre da noch: Das Projekt ist gestorben.
Ganz interessant in dem Zusammenhang:
http://www.glottopedia.org/index.php/Sein-Perfekt
'Ist gestorben' und 'ist verstorben' sehe ich in erster Linie, wie die
meisten hier, als stilistische Varianten in Gunhilds Sinne.
Ich frag mich grad, ob zwischen 'geblieben' und 'verblieben' ähnliche
Gebrauchsbeschränkungen bestehen: die wenigen noch in vergleichsweise
natürlichem Zustand verbliebenen Flächen (eher nicht(?): gebliebenen);
die verbliebene Zeit nutzen (?gebliebene Zeit). Anders hingegen, wenn
ein ganzer Satz auf Attributgröße zurechtgestutzt wird: Uns ist wenig
Zeit geblieben > die wenige uns gebliebene Zeit. ?... - grenzwertig,
würde ich sagen. Ähnlicher Stilunterschied wie bei gestorben / ver-
storben.
Vergangen - gegangen? Ein großer Europäer ist (von uns) gegangen / ist
jetzt vergangen (seehr gehoben, wenn überhaupt). Attributiv geht nur
'der letzten Freitag von uns gegangene H.K.', weil in 'vergangen' die
adjektivische Bedeutung 'vorbei' dominiert.
Gefroren - verfroren?: der (zu)gefrorene See; die verfrorenen Finger:
Hier hat 'ver-' eine andere Bedeutung, in etwa 'ange-'.
Auch der syntaktische Beitrag der Vorsilbe 'ver-' wäre zu bedenken.
An seiner Semantik hat sich zumindest Wiktionary mal versucht:
https://de.wiktionary.org/wiki/ver-
Teilweise sind die dort gelieferten Beschreibungsversuche rührend
naiv, aber es ist mal ein Anfang. In Betracht käme hier die
Bedeutung 4, z.T. auch 1.
Auch der Online-Duden bietet so etwas an:
http://www.duden.de/rechtschreibung/ver_
In Frage kämen hier 1, 2 und 4.
Viele Partizipen 2 mit ver- dienen sich einer attributiv-adjektivischen Verwendung an, anders als ihre Pendants ohne ver-:
- vergangene Woche
- verbrannte Erde (aber: gebrannte Mandeln)
- hinter verschlossenen Türen
usw.
Ich hab den Dreh noch nicht gefunden, warum das so ist. Vielleicht sind
das jedoch, wie vieles andere hier, nur Augenblicksbeobachtungen. Um
zu tragfähigen Aussagen zu kommen, müsste man das systematisch unter-
suchen.
Gibt halt noch viel zu entdecken in der Grammatik.
Gruß Ralf Joerres